Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 68

*** Verschlafen ***

„Was ist denn dies hier? Da sind doch eine ganze Menge Karten drin!“ Aurora hatte eine metallene Kiste in der Größe eines flachen Brotkastens geöffnet und wühlte jetzt in den darin befindlichen Papieren herum.

„Das ist die Kartenkiste eines ehemaligen Kaperstädter Küstenschiffers“, antwortete Hubert ihr. „Ich veräußere sie allerdings nur komplett, mit ihrem gesamten Inhalt.“

„Genau das, was wir suchen!“, strahlte Aurora ihn an. „Was kostet die Kiste?“

„Dreizehn Silberschillinge“, erwiderte der Händler.

„Oh… kann man da nicht noch etwas am Preis machen?“, gab die Elbin enttäuscht zurück.

„Sicher kann man… Das ist mein Einstiegspreis. Natürlich erwarte ich, dass mich ein Kunde weiter herunter handelt.“ Hubert sah sie eindringlich an. „Aber“, fuhr er dann fort, „ich halte es für ausgeschlossen, dass wir einen Preis finden, den du bezahlen kannst, und zu dem ich bereit bin, mich von dieser Kiste zu trennen. Und das gilt vermutlich für alle Kartensammlungen, an denen du Interesse haben könntest. Es tut mir leid, junge Grenzenlose.“

Just in diesem Moment betrat Tirvo den Laden. Aurora lief auf ihn zu. „Wo sind Mai-shin und Johann?“, fragte sie ihn.

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. Irgendwelche eigenen Angelegenheiten regeln, denke ich.“

Wie blöd, dachte Aurora. Die beiden hätten bestimmt genug Geld dabei gehabt. Dann fielen ihr die vier Goldmark ein, die sie gestern von Tideline bekommen hatte. Ob Tirvo das Geld jetzt wohl bei sich trägt?, fragte sie sich. Aber sollte er es nicht besser dafür verwenden, sein Gesicht wieder in Ordnung zu bringen? Schließlich wissen wir ja nicht einmal, ob uns diese Karten etwas nützen.

Tirvo bemerkte, dass sie ihn ansah. „Ist etwas?“, fragte er. Nicht, dass sie jetzt auch noch durchdreht!

Aurora schüttelte langsam den Kopf. „Ich fürchte, so kommen wir nicht weiter. Ich weiß wirklich nicht, wie wir Ludwig und die anderen finden sollen.“

„Ludwig?“, mischte Hubert sich ein. „Ist das auch ein Grenzenloser in eurem Alter? Ein sehr großer, kräftiger Junge mit einer Axt?“

„Genau!“ Aurora wandte sich überrascht dem Krämer zu. „Haben Sie ihn etwa gesehen?“

„Und wann?“, schloss sich Tirvo ihrer Frage an.

„Er war vorgestern Morgen hier“, antwortete der Mann. „Er suchte eine wasserfeste Hülle für den Bilderköcher, den er bei sich trug. Ich hatte so etwas – normalerweise benutzt man es zwar für Kartenrollen, aber für seine Zwecke war es auch geeignet. Beim Preis bin ich ihm sehr entgegen gekommen – es fehlten nur ein paar Kreuzer, und er wollte deswegen gleich seine Axt verkaufen! Das war mir nicht recht.“

„Eine Hülle für einen Bilderköcher?“, fragte Aurora aufgeschreckt. „Er hatte ein Bild dabei?“

„Ja – und es muss ihm wohl sehr wichtig gewesen sein! Der Köcher allein war gewiss eine halbe Goldmark wert, und er hat ihn keine einzige Sekunde aus der Hand gelegt. Merkwürdig – da trägt ein Junge derart abgerissene Kleidung und ist sogar bereit, seine Axt zu versetzen, mit der er offensichtlich seinen Lebensunterhalt verdient – nur um diesen Köcher zu schützen! Ich frage mich, was das wohl für ein Bild sein mag?“

Tirvo sah Aurora an. Das Elbenmädchen sah zu Boden. Er räusperte sich. „Das Bild, das Johann von dir gemalt hat… das hast du doch noch – oder?“

„Ich weiß nicht“, flüsterte Aurora. „Es ist so viel passiert in letzter Zeit, und es lag unter meinem Bett… dachte ich. Ich habe nicht nachgesehen.“ Plötzlich erinnerte sie sich an Hartmuts Worte: Sorge dafür, dass niemand anders dieses Bild zu Gesicht bekommt.

„Nun, es hat wohl großen Eindruck auf ihn gemacht“, meinte Hubert. „Zu mir hat er jedenfalls gesagt, es sei das einzige, was ihm noch etwas bedeute.“

***

Auf dem Weg zurück zum Turm stürmte Aurora wütend voran. Ab und zu vollführte sie einen der Drehsprünge, die ihr Kampfkunstlehrer sie gelehrt hatte und trat kräftig in die leere Luft. Tirvo hielt respektvollen Abstand.

Wie kann Ludwig einfach das Bild stehlen, das Johann mir geschenkt hat! Was bildet der Junge sich ein! Es war das schönste Geschenk, das ich jemals erhalten habe, und…

Die Elbin setzte zu einem weiteren Sprung an, brach aber mitten in der Bewegung ab, als sich ein neuer Gedanke in ihren Sinn drängte.

…und ich habe nicht einmal bemerkt, dass es nicht mehr da ist.

Missgelaunt lief sie weiter. Sie war immer noch wütend, aber ihr Zorn begann zunehmend, sich gegen sie selbst zu richten.

Warum habe ich nicht besser auf dieses Bild aufgepasst? Hartmut hat mich doch gewarnt. Wie soll ich ihm das nur erklären?

Dann wurde ihr mit einem Mal klar, dass es nicht Hartmut war, dem gegenüber ihr die Beichte, das Bild verloren zu haben, am schwersten fallen würde.

Wie soll ich es nur Johann sagen? Wird er jetzt nicht denken, dass sein Geschenk mir völlig egal war?

***

In der Küche des Turms waren Tirvo und Aurora, abgesehen von einer Katze, die sich auf einem der Stühle ausgestreckt hatte und zu schlafen schien, allein. Marianne und Johann befanden sich auf ihren Zimmern, und Mai-shin war noch nicht zurückgekehrt. Tirvo wärmte den Rest vom gestrigen Essen als Mittagsmahlzeit für sie auf.

Als sie aßen, steckte dann doch Johann seinen Kopf zur Tür herein. „Ist noch etwas für mich da?“, fragte er leise. Aurora bemerkte, dass seine Haare ein wenig verwuschelt waren – völlig untypisch für den normalerweise immer sorgfältig gekämmten Jungen.

„Klar“, gab Tirvo mit vollem Mund zur Antwort.

Johann nahm einen Teller und einen Löffel aus dem Küchenschrank, tat sich eine halbe Kelle Suppe auf, setzte sich neben Tirvo und begann langsam zu essen.

„Johann“, begann Aurora zögernd.

„Ja?“ Der Angesprochene, der gerade seinen Löffel zum Mund führte, hielt in seiner Bewegung inne und blickte sie an.

„Ich… ich muss dir etwas sagen.“

Der Menschenjunge zuckte mit den Augenlidern. „Ja?“

„Es ist wegen des Bildes, das du mir geschenkt hast. Es ist… Ludwig hat es mitgenommen.“

„Oh.“ Der Junge sah sie ausdruckslos an.

„Ich werde es mir natürlich zurückholen“, fuhr die Elbin fort.

„Ja“, bestätigte Johann.

Er schaut mich an, als erwartete er, dass ich noch etwas sage, dachte Aurora. „Es tut mir leid, Johann.“

„Schon in Ordnung“, antwortete der Junge.

Er sah sie weiterhin nervös an. Sie wusste nicht, was sie noch sagen konnte. Nach ein paar Sekunden ungemütlichen Schweigens senkte er dann den Kopf und aß langsam weiter.

***

Sie waren gerade mit Essen fertig, da stürmte plötzlich Mai-shin in die Küche. „Ich habe sie gefunden!“, rief sie. Hastig zog das Lashanimädchen einen Stuhl heran und setzte sich zu ihnen, während die Worte aus ihr heraus sprudelten:

„Ich habe Möwen gefragt, ob sie die drei irgendwo in der Umgebung von Kaperstadt gesehen haben. Es ist für Vögel zwar nicht einfach, sich an Bürger zu erinnern, die sie nicht sehr gut kennen, aber es war einen Versuch wert, dachte ich. Und es hat funktioniert!“

„Und wo sind sie nun?“, unterbrach Tirvo die atemlos und in einer seltsamen Singsangstimme redende Mai-shin.

Diese schaute ihn einen Augenblick verärgert an. Dann holte sie tief Luft und sprach nun ruhig weiter:

„Auf dem Meer. Sie treiben in einem Boot, ein bis zwei Möwenflugstunden Richtung Westen und ein bisschen nach Norden von Kaperstadt entfernt. Das heißt, dort waren sie vor knapp drei Stunden! Die Meeresströmungen müssten sie währenddessen weiter nach Norden getrieben haben, und die Gezeiten nehmen auf ihre Bewegungsrichtung bestimmt auch irgendwie Einfluss.“

„Wieso treiben sie?“, fragte Tirvo. „Haben sie denn keine Segel oder wenigstens Ruder?“

„Vermutlich – danach konnte ich die Möwe nicht fragen. Aber sie hat gesagt, die drei hätten sich nicht bewegt. Nein“, wehrte Mai-shin einen erschreckten Ausruf von Aurora ab, „sie waren nicht tot – die Möwe war auf dem Boot gelandet und konnte erkennen, dass sie atmen. Vögel können tote von lebendigen Bürgern unterscheiden.“

Die Lashani sah sie ernst an. „Sie schlafen – und ich vermute, sie werden nicht von alleine wieder aufwachen.“

„Aber was ist denn nur passiert? Sind sie von der Insel wieder fortgefahren?“, fragte Aurora verwirrt.

Mai-shin seufzte. „Aurora, hast du denn immer noch nicht begriffen? Diese Insel ist kein realer Ort! Tideline hat sie alle in einen magischen, bereits über zwei Tage andauernden Schlaf versetzt. Johanns Bild zeigt ihren Traum!“

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Veröffentlicht on September 28, 2011 at 11:11 pm  Kommentar verfassen  

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