Vom Schreiben im Stil H.P. Lovecrafts

Vor einiger Zeit schrieb ich für einen Autor, der um Feedback zu einer von ihm verfassten Lovecraft-Hommage gebeten hatte, eine sehr ausführliche Kritik. Dabei habe ich vieles formuliert, was sich nicht direkt auf seine Geschichte bezog, sondern allgemein für alle Versuche, in die schreiberischen Fußstapfen jenes genialen Autors zu treten, gültig ist. Diesen Text habe ich nun ein wenig umgeschrieben, um ihn aus dem Kontext jener speziellen Kritik vollständig zu lösen. Wer ein Freund der Geschichten Lovecrafts ist und mit dem Gedanken spielt (oder auch bereits dabei zur Tat geschritten ist), eigene Erzählungen in dessen unvergleichlichem Stil zu verfassen, mag ihn hilfreich oder zumindest interessant finden!

Wenn man eine Hommage an Lovecraft verfassen möchte, sollte man diesen nicht lediglich möglichst genau imitieren, sondern dessen Mythos etwas Eigenständiges hinzufügen, wie es von Derleth bis King bereits zahlreiche Autoren getan haben. Eine simple Imitation ist schlicht langweilig, wenn man nicht irgendein neues Element oder einen neuen Dreh einführt (ebenso wie es auch langweilig ist, wenn ein Autor sich selbst ohne wirkliche Variation wiederholt) – dies ist ein Missstand, an dem der Großteil aller Fan-Fiction krankt. Zumindest EINEN wirklich eigenständigen Aspekt sollte jeder Text aufweisen, ansonsten besitzt er keine Existenzberechtigung, außer vielleicht als bloße Schreibübung (zum Beispiel für eine Schreibwerkstatt). Bloße Schreibübungen zu veröffentlichen, das ist aber ein wenig so, als wenn man als Klavierspieler im Freundeskreis ein „Konzert“ gibt, bei dem man Tonleitern übt…

Etwas Grundlegendes, was Lovecrafts Erzählungen ausmacht, ist deren bewusste Weitschweifigkeit. Die tatsächliche Handlung ist meistens minimal (was viele heutige Leser als unbefriedigend empfinden). Stattdessen legt Lovecraft den Schwerpunkt auf ausführliche atmosphärische Beschreibungen und auf Einblicke in die aus dem Gleichgewicht geratene Gedanken- und Gefühlswelt seiner Erzähler. Es macht seine Texte aus, dass man sich als Leser seitenlang in den Gedankengängen dieses Erzählers verliert. Lovecraft treibt mit seinen Worten nicht in erster Linie die Handlung voran, sondern zieht den Leser in eine fremdartige Welt hinein – nicht schneller, höher oder weiter, wie in vielen modernen Horrorerzählungen, sondern TIEFER. Es widerspricht zwar dem vorherrschenden modernen literarischen Verständnis, welches Schreiber dazu anhält, möglichst knapp, präzise und ohne Redundanz zu formulieren, und die es als heiligen Gral moderner Literatur ansieht, jedes nur irgendwie verzichtbare Wort (und insbesondere alle Adjektive!) auszumerzen, aber eine Lovecraft-Hommage darf einfach nicht ZU KURZ geraten!

Und dann sind da eben diese Adjektive… Jedem beginnenden Schreiber wird heutzutage eingetrichtert, dass er sie äußerst sparsam einsetzen solle. Es stimmt ja auch: Tatsächlich lesen sich Anhäufungen von Adjektiven in Texten häufig überladen, gekünstelt und unbeholfen. Doch wer eine Lovecraft-Geschichte verfassen möchte, der darf natürlich nicht auf Adjektive verzichten! Die Kunst liegt allerdings darin, die RICHTIGEN Adjektive zu verwenden – bedeutungsschwanger, ausdrucksstark, fremdartig – vor allem aber immer vage genug, dass es der Fantasie des Lesers überlassen bleibt, sie mit bildhaften Vorstellungen zu füllen. Auch, was ihre Häufigkeit anbetrifft, gilt es in einer Lovecraft-Hommage zu klotzen, nicht zu kleckern.

Doch man muss es richtig machen! Mit ein wenig Selbstdisziplin sollte eigentlich jeder in der Lage sein, einen kurzen Text im Hemingway-Stil zu verfassen (deswegen eignen sich die entsprechenden Grundsätze ja auch so hervorragend für Schreibkurse) – sachlich, präzise, objektiv. Dies ist letztlich nur einfaches Schreibhandwerk. Lovecraft hingegen war ein Wortkünstler, und diesen Stil kann man sich nicht einfach erarbeiten – man benötigt ein Gespür für Worte. Besitzt man dieses nicht, läuft man Gefahr, genau solche Texte zu produzieren, welche dann als Paradebeispiel dafür dienen, warum beginnende Schreiber dazu angehalten werden, Adjektive weitestgehend zu vermeiden…

Ich will kurz einige Passagen aus einem Buch von Lovecraft, das ich zufällig gerade lese, zitieren:

„What I will do is to relate the most horrible cirumstances I ever encountered, and leave it to you to judge whether or not this forms a suitable explanation of my peculiarity.“

„And when it gave from those grinning jaws a deep, sardonic bay as of some gigantic hound, and I saw that it held in its gory filthy claw the lost and fateful amulet of green jade, I merely screamed and ran away idiotically, my screams soon dissolving into petals of hysterical laughter.“

„There were only three passengers – dark, unkempt men of sullen visage and somewhat youthful cast – and when the vehicle stopped they clumsily shambled out and began walking up state street in a silent, almost furtive fashion.“

„Molded by the dead brain of a hybrid nightmare, would not such a vaporous terror constitute in all loathsome truth the exquisitely, the shrieking unnamable?“

Weitschweifig. Umständlich. Vage. Redundant. Subjektiv. Überzogen. Dramatisch.

Lovecraft benutzt diese Form der Sprache, um das seelische Innenleben seiner Erzähler offenzulegen, die sich bemühen, Dinge in Worte zu fassen, die sie nicht in der Lage sind zu begreifen, und deren Gedanken immer wieder hilflos um die selben schrecklichen Erinnerungen kreisen, weswegen sie sich auch ständig in ihren Aussagen wiederholen. Es macht seine Geschichten aus, dass ihre Protagonisten zumeist gebildete, altmodische Menschen – häufig mit morbiden Tendenzen – sind. Auch dies muss der Stil, in welchem die Erzählung verfasst ist, widerspiegeln: Keine Scheu vor Wörtern, die der eine oder andere Leser vielleicht nachschlagen muss! Umgangssprachliche oder gewöhnliche Ausdrucksweise vermeidet man besser. Die seelischen Abgründe, die Lovecraft beschreibt, öffnen sich den Blasierten und Dekadenten; denjenigen, denen das normale menschliche Wissen nicht genügt, und für welche das alltägliche Leben Langeweile bedeutet. Sie sind es, die der Faszination des Schrecklichen verfallen. Ein echter Lovecraft-Protagonist spürt im vollen Bewusstsein dessen, was er da tut, entgegen dem gesunden Menschenverstand Dingen nach, DIE ZU WISSEN MENSCHEN NICHT BESTIMMT IST, und die Aufgabe des Autors ist es, den Leser bei diesem Abstieg in den Wahnsinn den Protagonisten begleiten zu lassen.

So wenig „Show, don’t tell“ bei Lovecraft auch auf die Darstellung der tatsächlichen Handlung passt, so treffend beschreibt es jedoch, wie er dem Leser die Persönlichkeit und den Geisteszustand seiner Erzähler vermittelt! Um sich dieser Erzählweise am besten anzunähern, schreibt man keine Geschichte, welche von den Geschehnissen der Handlung berichtet, sondern lässt diese Ereignisse von einem fiktiven Erzähler darstellen, und stellt dessen Eigenheiten und dessen seelischen Verfall durch seine Wortwahl dar. Die Handlung selbst ist nebensächlich; das wirkliche Grauen sind nicht die kosmischen Ungeheuer aus den namenlosen Tiefen des Alls, sondern es ist dasjenige, welches in der Psyche des fiktiven Erzählers stattfindet. Man braucht gar nicht zu versuchen, den Leser davon zu überzeugen, wie schrecklich der beschriebene Horror aus objektiver Wahrnehmung heraus doch sei (in unserer abgebrühten modernen Zeit ist das eh eine kaum zu bewältigende Aufgabe); man zeigt dem Leser stattdessen, welche schrecklichen Auswirkungen dieser Horror auf die Gedanken und das Empfinden des Erzählers hat! Man nimmt den Leser an die schreiberische Hand und verläuft sich mit ihm in diesem Labyrinth aus Assoziationen und Emotionen, bewegt sich dabei im Kreis, springt vor und zurück und betrachtet die selben Dinge immer wieder aus einer etwas anderen Perspektive, ohne sie jemals in völliger Klarheit zu erfassen. Nicht der Auslöser des Wahnsinns steht im Vordergrund, sondern der Erzähler, welcher nach und nach immer wahnsinniger wird, sowie die Art und Weise, in der er dies wird! Das jeweilige schreckenerregende Monster hingegen ist letztlich unwichtig und kann möglicherweise sogar komplett unbeschrieben bleiben.

Dass Lovecraft nicht vor der Benutzung zahlreicher Adjektive zurückscheute, bedeutet jedoch nicht, dass er nicht zusätzlich auch starke, aussagekräftige Verben nutzte! Daher sollte man, anstatt zum Beispiel in kurzen Abständen immer wieder das Verb „schreien“ zu verwenden (was sich unbeholfen und eintönig liest), nach Alternativen suchen: Ein Schrei kann gellen, eine Stille durchdringen oder durch einen Raum hallen; gepeinigten Lippen kann ein panisches Kreischen entfahren; und entsetzliche Laute einer unbezähmbaren, unmenschlichen Wut können jemanden aus jener schrecklichen, verhängnisvollen Kammer gegen dessen eigenen, unter der Last der Begegnung mit diesem namenlosen Grauen zusammenbrechenden Willen hinaustreiben…

Echter Horror findet im Kopf statt und besitzt keine klaren, durch präzise Beschreibungen zu vermittelnden Konturen. Nach dem selben Prinzip, welches Schemen im Nebel furchteinflößender als alles macht, was sich bei dessen Aufreißen dem Auge offenbaren könnte, gestaltet der Autor einer Horrorgeschichte im Lovecraft-Stil das Grauen nicht dadurch, dass er es dem Leser zeigt, sondern indem er es mit genau jenen sprachlichen Mitteln verbirgt, welche die Hemingway-Schule des Schreibens so vehement ablehnt: „Don’t show them the monster – have someone tell them about it, or more precisely: have them incoherently babble about it.“

DAS ist Lovecraft.

Published in: on Juni 29, 2011 at 3:23 pm  Kommentar verfassen  
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