Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 46

*** Einbruch ***

Es dauerte bis lange nach Mitternacht, bevor die letzten Gäste den Goldenen Anker verließen und dort die Lichter gelöscht wurden. Als die Schüler sich schließlich im Mondschein auf den Rückweg zum Gasthaus machten, war es bereits zwei Uhr morgens durch.

Sie stellten rasch fest, dass alle Fenster im Erdgeschoss verriegelt waren. Im Obergeschoss war dies – abgesehen von jenem von außen vernagelten Fenster – nicht der Fall, aber sie sahen keine Möglichkeit, dort unbemerkt einzudringen, da sie damit rechnen mussten, dass in den dazu gehörigen Zimmern Dietmar und Herbert schliefen. Der Haupteingang würde gewiss mit jenem armdicken, zwei Meter langen Riegel gesichert sein, den Aurora während ihrer Kellnertätigkeit tagsüber bemerkt hatte, und auch der Lieferanteneingang zur Küche war zumindest verschlossen und vermutlich ebenfalls verriegelt.

Tirvo war es dann, geleitet von Erinnerungen an die Kneipe, die seine Eltern betrieben hatten, der die Kohlenrutsche fand – eine lediglich mit einer Plane bedeckte Klappe, welche gerade groß genug schien, um einem dreizehnjährigen Menschenjungen das Durchschlüpfen zu ermöglichen.

Am Strand vor dem Gasthaus, wo das Wellenrauschen ihr leises Reden übertönte, führten sie dann eine letzte Besprechung durch.

„Ich werde draußen bleiben und die Umgebung, sowie die oberen Fenster im Auge behalten“, sagte Mai-shin. „Ganz in der Nähe nistet eine Eule, die mir dabei helfen kann. Wenn ihr sie wiederholt rufen hört, wisst ihr, dass Gefahr droht.“

„Können wir davon ausgehen, dass die Tür zum Kohlenkeller unverschlossen ist?“, fragte Johann Aurora. „Oder gibt es vielleicht gar keine Tür?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete diese. „Der Keller muss mit der Küche verbunden sein, aber die habe ich während der Arbeit nicht betreten.“

„Wenn wir die Kohlenrutsche nicht benutzen, müssen wir sowieso die Hintertür aufbrechen“, meinte Mai-shin. „Die Chancen stehen aber gut, dass eine Tür im Haus nicht so gut gesichert ist.“

„Dann also die Kohlenrutsche“, sagte Johann und öffnete seinen Rucksack, aus dem er einen Malerkittel hervorzog. Er legte sein Halstuch, sein Hemd und seine Hosen ab und verstaute diese sorgfältig im Rucksack, bevor er den Kittel über seine Unterwäsche zog. „Was denn?“, fragte er, als die anderen ihn belustigt ansahen. „Warum sollte ich meine guten Sachen einsauen?“

„Schon gut“, meinte Tirvo. „Aurora und ich besitzen halt gar keine guten Sachen.“

Dann schlichen sie zurück. Mai-shin begab sich zum Waldrand, um die Eule herbei zu rufen. Die anderen drei zogen vorsichtig die Plane über der Kohlenrutsche ganz beiseite.

„Du zuerst“, flüsterte Johann Tirvo zu. Als dieser eine Grimasse zog, ergänzte er: „Du bist der Größte von uns. Falls du stecken bleibst, ist es besser, wenn wir dich zurück nach draußen ziehen können.“

Das leuchtete ihm ein, und er begann widerwillig, sich mit den Beinen voran durch die geöffnete Klappe zu zwängen. Bis zu den Schultern kam er, dann steckte er fest. Die anderen zogen ihn wieder ein Stück heraus.

„Lasst es mich noch einmal probieren“, flüsterte Tirvo. Erneut ließ er sich in das dunkle Loch hinunter, diesmal jedoch mit dem linken Arm fest an seinen Vorderleib gepresst, den rechten hingegen gerade in die Höhe gestreckt. Er musste sich mit Hilfe der beiden anderen noch ein wenig drehen, aber dann rutschte er in dieser schiefen Haltung wie ein Korken aus einer Flasche durch die Öffnung und landete nur wenige Zentimeter tiefer auf einer kleinen Kohlenhalde.

Für einen Augenblick verharrten die Schüler regungslos, bis das Geräusch der nachrutschenden Kohlen verhallt war. Dann folgte zuerst Aurora Tirvo, und schließlich Johann.

Die Kohle schluckte auch das letzte bisschen Mondlicht, welches durch die Klappe in den Keller fiel, so dass sie sich den Weg zum Haus hin ertasten mussten. Glücklicherweise waren die Stufen zur Küche nur einen knappen Meter entfernt. Sie führten zu einer Falltür, deren Umrisse dank dem schwachen Licht, welches durch ihre Ritzen fiel, mit einiger Mühe zu erkennen waren. Tirvo richtete sich vorsichtig auf und versuchte, die Tür mit seinen Schultern anzuheben. Erleichtert stellte er fest, dass dies möglich war und öffnete sie auf diese Weise, wobei er darauf achtete, sie rechtzeitig mit den Händen festzuhalten, damit sie nicht auf den Küchenboden aufschlug.

Als sie alle drei in der Küche standen, schlossen sie die Falltür vorsichtig wieder, was ohne ein allzu lautes Geräusch möglich war, da auf der Oberseite der Tür ein Griff angebracht war. Daneben befand sich auch eine Riegelhalterung, aber deren Gegenstück auf dem Küchenboden schien abgebrochen zu sein.

„Glück gehabt“, flüsterte Tirvo.

Nacheinander passierten sie die leise quietschende Schwingtür zum Schankraum. Ebenso wie die Küche war auch dieser nicht vollständig dunkel, da durch die Ritzen zwischen den Fensterläden ein wenig Mondlicht herein fiel. Dann schlichen sie zu dritt die keineswegs besonders leise knarrenden Treppenstufen hinauf, immer wieder inne haltend, um zu lauschen, ob sie jemanden geweckt hatten.

Am oberen Ende der Treppe befand sich eine Tür. Vorsichtig drückte Tirvo die Klinke hinunter. Sie war unverschlossen. Auch sie quietschte leise, als er sie aufschob. Vor ihnen lag ein im Vergleich zum Schankraum hell erleuchteter Flur, da der Mond ungehindert durch dessen nicht mit Läden verschlossene Fenster scheinen konnte.

Einige Schritte vom Treppenabsatz, der direkt unter einem Fenster lag, entfernt, mündete dieser Flur im rechten Winkel in einen weiteren, längeren. Nach rechts, zur Vordertür hin, waren dort vier Türen auszumachen; nach links hingegen nur zwei. Die ihnen gegenüber liegende auf dieser Seite musste zu dem Raum mit dem von außen vernagelten Fenster führen.

Zögernd machte Tirvo einen Schritt in den Flur hinein. Die Tür zum anderen Raum links stand offen – ein Badezimmer. Leise folgte Johann ihm. Aurora bewegte sich probeweise einige Schritte in die andere Richtung, doch der knarrende Boden hielt sie von einem weiteren Vordringen ab. Sie blieb stehen, um zu lauschen, damit sie Alarm schlagen konnte, sobald sich hier irgendetwas rührte. Im Augenblick jedenfalls hörte sie nur Schnarchgeräusche.

Johann wies stumm auf die Tür des Raums, der ihr Ziel war. Ein Schlüssel steckte darin. Nach einer kurzen, ausschließlich mit Handbewegungen geführten Diskussion mit Tirvo trat er vor und drehte diesen Schlüssel so leise wie möglich im Schloss. Dann stieß er ganz sachte die Tür auf und betrat den Raum. Tirvo folgte ihm.

„Ich habe euch gehört“, vernahmen sie die Stimme eines alten Mannes, als sie vorsichtig die Tür wieder schlossen. „Ihr könnt mich nicht erschrecken.“

Auf dem Bett an der gegenüber liegenden Wand lag ein nur mit einem Nachthemd bekleideter Mann. Er war mit Lederriemen ans Bett gefesselt. Neben seinem Kopfende standen auf einem kleinen Tisch ein gläserner Krug mit Wasser und ein Wasserglas, sowie eine auf kleinste Flamme gestellte Öllampe.

Tirvo trat heran und stellte die Lampe höher. „Wir wollen Sie nicht erschrecken“, sagte er. Der Mann im Bett wirkte ausgemergelt und erschöpft. Er hatte nur ein Bein – ein hölzerner Beinstumpf lehnte in einer Zimmerecke an der Wand. Sein grauer Bart war verfilzt und strähnig, und in seinem Mund fehlten einige Zähne. Seine Augen jedoch starrten die beiden Schüler unverwandt und trotzig an.

„Sie sind Hugo Eisenarm?“, fragte Tirvo.

Völlig unerwartet begann der alte Mann leise zu lachen. „Grenzenlose! Dietmar schickt mir Grenzenlose, um mich zum Sprechen zu bringen! Wie seht ihr denn aus – seid ihr durch den Kohlekeller gekrochen?“

„Nicht so laut, bitte“, bat ihn Tirvo erschreckt. „Wir sind gekommen, um Sie zu befreien.“

Der Mann grinste ihn an. „Natürlich seid ihr das. Aber vorher soll ich euch erzählen, wo ich den Schatz versteckt habe, stimmt’s?“

Tirvo schüttelte den Kopf. „Nein, wir wollen Sie erst einmal einfach nur befreien. Natürlich interessiert uns auch der Schatz, aber wir werden Ihnen nichts tun, wenn Sie uns nichts sagen wollen – das ist allein Ihre Sache. Schließlich ist es ja auch Ihr Schatz.“ Er zog seinen Dolch hervor und machte sich daran, die Lederriemen zu durchtrennen.

Hugo blickte ihn verblüfft an. „Ihr meint das ernst, ja? Dietmar hat euch nicht geschickt?“

Tirvo schüttelte erneut den Kopf. „Er weiß nicht, dass wir hier sind. Also seien Sie bitte möglichst leise.“

Er hatte die Riemen, welche die Arme des Mannes festhielten, zerschnitten, und dieser setzte sich jetzt auf und löste mit erstaunlicher Kraft die übrigen Riemen um seine Hüfte und um seinen verbliebenen Fuß. Dann drehte er sich zu dem Tisch mit dem Krug, goss sich das Wasserglas voll und leerte es sofort mit einem Zug. Dies wiederholte er mehrmals, bis der Krug schließlich leer war.

„Ah, das tat gut. Danke, Jungs. Aber meinen Schatz, den kriegt ihr nicht – ist das klar?“

„Schon klar“, versuchte diesmal Johann, ihn zu besänftigen. „Aber lassen Sie uns erst einmal von hier verschwinden! Haben Sie etwas anzuziehen?“

Hugo sah ihn an, als hätte er vorgeschlagen, mit ihm zusammen auf einem Regenbogen zu tanzen. „Verschwinden? Wieso? Ich gehe hier nicht weg.“

„Ja, aber…“ Tirvo wusste nicht so recht, was er sagen sollte. „Sie werden hier doch gefangen gehalten! Haben Sie denn keine Angst, dass Dietmar und Herbert Ihnen etwas antun?“

„Ach was“, wischte Hugo die Frage beiseite, während er unter dem Bett einen Nachttopf hervor kramte. „Die beiden tun mir schon nichts. Das bisschen Durst, damit bekommen sie mich nicht weich – da haben wir früher gemeinsam Schlimmeres durchgestanden! Und überhaupt, selbst wenn Sie mir etwas antun – ich habe es verdient.“

Mit einer Hand an der Wand abgestützt, begann er Wasser zu lassen. Just in diesem Moment betrat Aurora das Zimmer, die zu dem Schluss gekommen war, dass die übrigen Bewohner des Gasthauses, nachdem sie durch die bisherige Unterhaltung nicht wach geworden waren, sich wohl durch nichts in ihrem Schlummer stören ließen. Verschämt wandte sie ihren Blick ab.

„Noch eine?“, wunderte sich Hugo, wieder nicht besonders leise. „Weswegen seid ihr eigentlich hier?“

„Kuno und Kati“, antwortete Aurora gedämpft. „Uns ist zu Ohren gekommen, dass sie etwas von einem Schatz erzählt haben, bevor sie von den Hunden gerissen wurden, und unser Fürsprecher…“

„Was? Kuno und Kati sind tot?“, rief der alte Mann entsetzt und mit kaum unterdrückter Lautstärke aus. „Dann findet ihn niemand mehr. Dann ist es vorbei. Was wollt ihr dann noch hier? Ich werde nicht mit euch kommen, das könnt ihr vergessen. Geht einfach!“

„Aber möchten Sie denn wirklich…“, begann Aurora, doch Hugo ließ sie ihre Frage nicht beenden.

„Habt ihr mich nicht gehört? Ihr sollt gehen, habe ich gesagt“, brüllte er. „Lasst mich alleine – geht endlich! GEHT!“

Die Elbin glaubte, Tränen in seinen Augen stehen zu sehen, doch sie hielt sich nicht damit auf, dies zu überprüfen – spätestens jetzt mussten Dietmar und Herbert aufgewacht sein. Eilig verließen die drei Schüler das Zimmer und rannten über den Flur zur Treppe und diese hinunter. Gemeinsam entriegelten sie rasch die Vordertür und stürmten hinaus auf die Terrasse. Nur Sekunden später schoss ein Schwarm Vögel an ihnen vorbei in den Schankraum, flatterte hin und her und veranstaltete einen Höllenlärm.

Draußen stieß Mai-shin zu ihnen, und sie rannten gemeinsam weiter, bis sie außer Sichtweite des Gasthauses waren. Nach einer kurzen Verschnaufpause machten sie sich dann auf den Weg zurück zum Turm.

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Veröffentlicht on Juni 4, 2011 at 11:00 am  Kommentar verfassen  

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