Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 47

*** Neue Pläne ***

Am nächsten Tag schliefen sie alle aus – selbst Mai-shin blieb bis lange nach Sonnenaufgang im Bett. Aurora ging davon aus, dass Hugo seinen früheren Offizieren von ihrem nächtlichen Besuch erzählt hatte, also war natürlich nicht daran zu denken, ihre Tätigkeit im Goldenen Anker fortzuführen.

Hartmut war weiterhin abwesend, was sie der Pflicht enthob, ihm Bericht zu erstatten, und Hargor ebenso. Marianne hatte sich mit ihren Katzenfreunden in ihr Zimmer zurückgezogen und verließ dieses nur für Kurzbesuche in der Küche oder im Badezimmer. So saßen sie schließlich zu sechst bei einem späten Frühstück am Tisch: Aurora, Tirvo, Mai-shin, Johann, Ludwig und Bikkapuna. Die beiden letzteren waren sehr still, und besonders Ludwig wirkte niedergeschlagen.

Als sie aufgegessen hatten, fragte Johann in die Runde: „Und was machen wir heute? Wie geht es weiter?“

Aurora zog eine Grimasse. „Tirvo und ich werden erst einmal unsere Sachen waschen. Weißt du, wir haben keine anderen.“

„Ach so.“ Johann wirkte kleinlaut. „Ich denke, bei mir genügt es, wenn ich meinen Kittel ausklopfe.“

„Wenn ihr heute keine besondere Aufgabe für mich habt, gehe ich in die Stadt“, sagte Mai-shin.

„Was hast du denn vor?“, fragte die Elbin.

„Geld verdienen“, antwortete die Lashani kurz angebunden.

„Wie denn?“, fragte Aurora nach.

„Wie Grenzenlose das eben so tun“, gab Mai-shin zurück. „Schau mich nicht so schockiert an, Aurora – du kannst dir ja gerne weiterhin alles von Johann bezahlen lassen, aber für mich ist das nichts!“

Die Elbin ignorierte den Seitenhieb. „Aber kannst du denn keine andere Arbeit finden?“

„So wie Kellnern zum Beispiel?“ Mai-shin sah sie mitleidig an. „Ich habe keine Zeit für solche schlecht bezahlten Tätigkeiten. Das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag muss stimmen.“

Aurora war fassungslos. „Woher willst du denn wissen, dass du so gut bezahlt wirst?“

Mai-shin lächelte. „Aurora, ich bin eine Grenzenlose – UND eine Lashani, was sogar noch ein wenig exotischer ist! Und auch wenn ich nicht so hübsch wie du bin, denke ich doch, dass mein Aussehen recht vorzeigbar ist. Außerdem habe ich gestern bereits ein paar Kontakte geknüpft. Ich gehe davon aus, dass ich es mit sowohl zahlungskräftiger als auch zahlungswilliger Kundschaft zu tun haben werde.“

„Ja… aber…“, stammelte Aurora, die nicht mehr wusste, was sie sagen sollte. „Und wenn dir jemand weh tut?“

Mai-shin lächelte erneut. „Dann tue ich demjenigen mehr weh. Männer können sehr empfindlich sein, weißt du? Mach dir keine Sorgen um mich.“ Sie verließ die Küche, winkte den anderen noch einmal zu und war verschwunden. Einen Augenblick sah es so aus, als würde Johann ihr etwas hinterher rufen wollen, aber dann schwieg er doch.

„Mai-shin – was tust du da bloß?“, flüsterte Aurora.

„Das, was sie für nötig hält“, murmelte Tirvo.

***

Nachdem sie ihre Kleidung gewaschen und zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet hatten, saßen Aurora und Tirvo in geliehenen Hemden auf der Terrasse. Der Junge schien ein wenig zu dösen. Aurora dachte über ihre gestrigen Erlebnisse nach. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu der Vision von ihrer Mutter zurück, doch auch ihr Vater kam ihr zuletzt wieder immer öfter in den Sinn.

Schließlich stieß sie Tirvo leicht in die Seite.

„Was ist?“, nuschelte dieser.

„Ich… ich fühle mich unruhig“, sagte sie mit niedergeschlagenen Augen.

„Kann ich verstehen nach den Ereignissen gestern“, gähnte Tirvo.

„Ich meine… ich würde mich gerne weniger unruhig fühlen. Du weißt schon.“

„Klar“, meinte Tirvo verschlafen. „Aber das wird schon.“

Verzweifelt beschloss Aurora, deutlicher zu werden. „Ist die Peitsche noch im Schuppen?“

„Ich denke schon… oh!“ Tirvo setzte sich auf. „DAS meinst du!“

Aurora nickte verschämt.

„In Ordnung“, meinte Tirvo und stand auf, um die Peitsche zu holen.

***

Hinterher, als Tirvo die Peitsche wieder zurück brachte, betrachtete er für einige Sekunden nachdenklich den dort an der Wand lehnenden Spaten. Noch nicht, entschied er. Erst, wenn es so weit ist.

Stattdessen ging er hinunter zum Turmsee, um ein bisschen zu schwimmen. Dort fand er Ludwig am Ufer sitzend, mit den Füßen im Wasser. Seine Axt lag neben ihm.

Tirvo grüßte ihn und erhielt ein Brummen zur Antwort. „Ist Rogo nicht da?“

„Er ist heute noch einmal mit seinem alten Rudel unterwegs, bevor sie wieder weiterziehen.“ Ludwig betrachtete eingehend ein kleines Stück Kies, das in seiner Handfläche hängen geblieben war. Nach einer knappen Minute schnipste er es schließlich mit einer angewiderten Bewegung in den See.

„Du bist schlecht drauf“, stellte Tirvo seine Beobachtungsgabe zur Schau. „Wegen Rogo?“

Ludwig schnaubte kurz. „Ist Rogo etwa daran schuld, dass Tideline jetzt vogelfrei ist? Ach nein – das bin ja ich. Oder ist Mareike vielleicht für ihn gestorben? Ach nein – das war ja ebenfalls ich.“

Ludwig hob seine Axt auf und balancierte sie nahe der schweren Schneide auf seiner Handfläche. „Ich glaube, ihr habt Recht da drüben, dass Grenzenlosigkeit nichts als Kummer und Leid bringt. Ich stürze alle nur ins Unglück.“

„Ach Unsinn – ich bin sicher, du kannst mit deiner Gabe auch viel Gutes tun“, widersprach Tirvo eher rasch als überlegt.

„Ach ja? Wie viel Gutes kann es schon bringen, in den Überresten Verstorbener herum zu wühlen?“

„Aber die sind doch schon tot, bevor du etwas mit ihnen zu tun hast“, murmelte Tirvo.

„Sag das Mareike. Oder Tideline.“ Ludwig balancierte seine Axt jetzt nur noch auf Zeige- und Mittelfinger. „Wer ist wohl der Nächste?“

„Unsinn – niemand ist der Nächste“, versicherte Tirvo ihm, doch die Überzeugung in seiner Stimme klang hohl.

„Nichts als Unglück bringe ich“, wiederholte Ludwig.

Tirvo seufzte, stand auf und ließ ihn allein. Er ging zurück zum Schuppen, um den Spaten zu holen.

***

Ein Mittagessen im eigentlichen Sinn fiel aus – niemand schien Lust zu haben, für Marianne als Koch einzuspringen, und so schmierten sich diejenigen, die Hunger hatten, einfach ein paar Brote. Aurora, Tirvo und Johann saßen jedoch zusammen in der Küche und beratschlagten ihr weiteres Vorgehen.

„Zurück zum Goldenen Anker zu gehen, hat jedenfalls keinen Sinn“, meinte Johann. „Wir handeln uns bloß Ärger ein, und außerdem weiß Hugo ja offenbar unterdessen selbst nicht mehr, wo sein Schatz ist.“

„Wenn ich das richtig verstanden habe, wussten die Katzen es aber“, sinnierte Tirvo.

„Die können wir aber nicht mehr fragen“, stellte Aurora fest. „Schade, dass wir nicht genau wissen, was sie dem Rudel vor ihrem Tod erzählt haben. Und es wäre auch interessant, den genauen Ort zu erfahren, an dem sie gerissen wurden.“

„Warum fragen wir eigentlich nicht das Rudel?“, schlug Johann vor.

„Das ist nicht mehr in der Gegend“, erklärte Tirvo. „Oder wenigstens bald nicht mehr.“

„Es müsste doch möglich sein, ihnen eine Nachricht zu schicken, dass wir uns gerne mit ihnen unterhalten würden“, mutmaßte Johann. „In einer Hundefreistatt sollte das doch gehen.“

„Und wie unterhalten wir uns mit ihnen?“, fragte Aurora. „Wir bräuchten jemanden, der die Hundesprache beherrscht. Gibt es so jemanden in Kaperstadt?“

„Auch das würden wir in einer Hundefreistatt gewiss erfahren“, sagte Johann.

„Gehen wir zu Petra Eichler“, schlug Tirvo vor. „Sie war sehr freundlich zu uns und wird uns gewiss weiterhelfen.“

Aurora nickte. „Das ist eine gute Idee.“

„Ich ziehe mich nur rasch um“, sagte Johann.

„Du musst nicht unbedingt mitkommen, wenn du lieber malen willst oder so etwas“, meinte Aurora.

„Schon in Ordnung“, entgegnete Johann. „Es ist ja schließlich auch mein Auftrag. Und vielleicht habt ihr ja unerwartete Auslagen.“

Aurora dachte an Mai-shins Worte vom Morgen und antwortete nichts.

***

An Petras Haus wurden sie mit lautem Gebell begrüßt, und zahlreiche Hunde stürmten heran, um sie zu beschnüffeln und ihnen die Hände zu lecken. Offenbar erinnerten sich die Hunde noch gut an sie. Die Elbin hatte ein bisschen ein schlechtes Gewissen, dass sie keinen von ihnen mit Namen kannte. Naja, es war auch unser erster Tag in Arkheim gewesen, dachte sie.

Petra schien nicht anwesend zu sein, aber plötzlich kam ein Vierbeiner auf sie zu gelaufen, den Aurora wiedererkannte. „Rudi!“, rief sie erfreut aus. „Geht es dir wieder besser?“

Zumindest trug der Terrier keine Verbände mehr – nur das Fell an seiner Flanke wirkte noch ein wenig zottelig. Er sprang an ihr hoch und ließ sich von ihr auf den Arm nehmen.

„Wisst ihr, wann Petra wieder da ist?“, fragte Tirvo in die Runde. Vielstimmiges Gebell antwortete ihm, und er blickte ratlos drein.

„Fragen wir doch einfach die Hunde selbst“, meinte Johann.

„Natürlich“, stimmte Aurora zu. Wann würden sie sich endlich daran gewöhnen, dass Pfoten in Arkheim Personen waren?

„Wir suchen jemanden, der die Hundesprache versteht, sowie eine Möglichkeit, einem Rudel Wildhunde eine Nachricht zu überbringen“, wandte sie sich an die sie umgebende Hundemeute. „Könnt ihr uns da weiterhelfen?“

Erneut bellten die Hunde. Dann trat einer vor und begann, etwas mit der Pfote in eine sandige Bodenstelle zu schreiben.

„P-A-L-M-E-N“, buchstabierten die Schüler. „H-E-I-M. Palmenheim.“

„Und wo liegt das?“, fragte Tirvo. Wieder begann lautes Gebell. Dann sprang eine schwarz-weiß getupfte Laufhündin vor, rannte ein paar Schritte Richtung Straße, drehte sich zu ihnen um, ließ sich auf die Vorderpfoten nieder und bellte auffordernd.

Tirvo unterdrückte den Impuls, einen Stock in ihre Richtung zu werfen. „Du willst uns den Weg zeigen?“, fragte er stattdessen.

„Wuff-wuff! Wuff-wuff-wuff!“

„Das heißt ja„, erklärte Aurora überzeugt.

Sie verabschiedeten sich von Rudi und den anderen Hunden und folgten ihrer bereits ungeduldig hin und her hüpfenden Führerin.

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Veröffentlicht on Juni 9, 2011 at 1:07 pm  Kommentar verfassen  

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