Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 58

*** Gefunden ***

Bevor sie sich dem Turm näherten, schickte Mai-shin eine Taube vor, um auszukundschaften, ob Hartmut zu Hause war. Er war es nicht, und von Ludwig erfuhren sie, dass ihr Fürsprecher erst am Abend des nächsten Tages zurückkehren würde.

„Vielleicht haben wir bis dahin unseren Auftrag ja schon beendet?“, lächelte Mai-shin den großen Jungen an, der gleichgültig an einem Stück Holz herumschnitzte. „Allerdings bräuchten wir noch ein wenig Hilfe von einem Hund mit einer guten Spürnase.“ Sie wandte sich Rogo zu. „Könntest du uns helfen? Es dauert vermutlich nur ein paar Stunden, aber sicherheitshalber planen wir besser den ganzen morgigen Tag ein.“

Rogo bellte laut Zustimmung und stellte fragend seine Ohren auf.

„Es geht um die Katzen, welche dein altes Rudel gerissen hat, bevor es dich hier besucht hat“, erklärte Mai-shin. „Wir vermuten, dass sie unmittelbar vorher etwas Kleines und möglicherweise tatsächlich recht Wertvolles versteckt haben. Natürlich ist die Spur schon ein wenig älter…“

Rogos erneutes Bellen ließ keinen Zweifel daran, dass er darin kein Problem sah.

„Prima!“, strahlte die Lashani. „Dann brechen wir morgen gleich nach dem Frühstück auf! Bis dahin sollten wir uns nach der letzten Nacht alle ein wenig ausruhen – besonders du, Aurora.“

Die Elbin sah sie einen Moment irritiert an, dann begriff sie. „Ach so – damit ich träumen kann, meinst du.“

„Grüß‘ deine Mutter von uns“, meinte Johann.

„Ich gehe noch ein wenig schwimmen“, sagte Tirvo. „Wer kommt mit?“

Ludwig und Rogo meldeten sich, und sie brachen auf. Tirvo stellte erleichtert fest, dass Ludwig weder Fragen nach ihrem Auftrag, noch nach ihrer letzten Nacht, noch nach Auroras Mutter stellte. Tatsächlich schien ihm Ludwig heute besonders schweigsam.

Das war Tirvo aber auch ganz recht so.

***

„Das sind sie also“, sagte Aurora leise. „Kuno und Kati.“

Die Schüler standen vor den beiden bereits stark verwesten Katzenkadavern. Natürlich hatte die Elbin schon tote Tiere gesehen – aber Pfoten sind keine Tiere!, ermahnte sie sich – doch diese waren frisch getötet gewesen (teilweise von ihr selbst mit ihrem Jagdbogen) und bereit, in die Küche gebracht und dort zum Verzehr zubereitet zu werden. Der Anblick von bis zu den Knochen hinunter verrottetem Fleisch auf von den Leichensäften geschwärztem Gras war neu für sie und löste in ihr eine mehr als bloß körperliche Übelkeit aus. Sie schloss kurz die Augen, um ihre Gedanken und ihren Magen wieder in den Griff zu bekommen.

„Wir sollten vielleicht die Schädel für Ludwig mitnehmen“, meinte Mai-shin. „Hartmut erwartet das vermutlich von uns.“

Einige Sekunden antwortete niemand. Dann sagte ein erkennbar bleicher Johann: „Lass uns das auf dem Rückweg tun, falls… wir dann noch nicht alles geklärt haben.“

Mai-shin blickte die anderen der Reihe nach an, und sie wichen ihrem Blick aus. Sie zuckte mit den Schultern. „Na schön.“ Sie sah zu Rogo hinüber, der in ein paar Metern Entfernung systematisch den Boden abschnüffelte. „Hoffentlich ist die Spur nicht doch schon zu alt.“

Doch nach einigen Minuten warf Rogo den Kopf zurück und bellte triumphierend, und als sie sich ihm näherten, lief er, die Nase wieder dicht am Boden, tiefer in den Wald hinein.

Sie folgten ihm ungefähr drei Stunden lang in nordöstlicher Richtung, wobei der große Hund zwischendurch mehrfach anhielt und die Umgebung in größer werdenden Kreisen abschnüffelte. Er schien aber die Spur der Katzen immer wieder zu finden. Schließlich jedoch veränderte sich das Verhalten des Rüden: Er lief, von einer kleinen Lichtung ausgehend, einzelne kurze Wege hin und zurück, und jedes Mal, bevor er umkehrte, bellte er.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Tirvo Rogo, als dieser zum siebten Mal und – so schien es – endgültig zurückgekehrt war. Der Hund sah ihn mit schief gelegtem Kopf an, so als überlegte er. Dann lief er erneut los, auf den selben Wegen wie zuvor, aber diesmal zeichnete er, bevor er umkehrte, jeweils mit seiner Vorderpfote ein Kreuz in den Boden. Dann kam er wieder zu ihnen zurück.

„Die Spur führt nicht weiter?“, fragte Aurora. Rogo schüttelte den Kopf.

„Ich denke, die Katzen sind von hier aus zu verschiedenen potenziellen Verstecken gelaufen“, mutmaßte Mai-shin. „Die Spuren enden alle vor Bäumen oder schwierig zu erkletternden Felsen, sehr ihr? Vermutlich haben sie das gerade für den Fall getan, dass ein Hund ihrer Spur folgt. Das erschwert die Suche.“

„Der Schatz ist also am Ende einer dieser Spuren versteckt“, begriff Aurora. „Das heißt, wir müssen die Bäume und Felsen erklettern und nach Astlöchern und anderen Hohlräumen absuchen.“

„Na, dann mal los“, seufzte Johann und steuerte auf das nächstgelegene Kreuz zu.

„Willst du nicht erst wieder deine guten Kleidung ablegen?“, fragte Tirvo ihn spöttisch. Johann drehte sich irritiert zu ihm um.

„Ich habe doch heute morgen extra meine ältesten Sachen angezogen!“

Tirvo öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Das Hemd und die Hose, welche Johann trug, wären in seiner Heimat fein genug für einen Kirchenbesuch gewesen. Er zuckte mit den Schultern, suchte sich ebenfalls ein Kreuz und begann, den dahinter befindlichen Baum zu erklettern.

***

Gerade, als Aurora zu dem Schluss gelangt war, dass auf dem Baum, den sie sich ausgesucht hatte, kein Versteck zu finden war, und sie sich vorsichtig an den Abstieg machte, hörte sie ein lautes Knacken, gefolgt von einem heftigen Rascheln und einem spitzen Schrei.

„Hiiiiiiii!“

Reflexartig drehte sie sich in die Richtung dieser Geräusche um, wobei sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Sie erkannte Mai-shins schemenhafte, blaue Gestalt, wie sie aus einem benachbarten Baum hinab stürzte. Das Mädchen breitete noch rasch seine Arme aus, aber dann schlug sie mit einem unerträglich dumpfen Geräusch auf dem Boden auf und rührte sich nicht mehr.

„Mai-shin!“

Aurora kletterte den Baum nicht hinab – sie sprang zu Boden, beinahe direkt zu der Stelle, an welcher die Lashani nun regungslos lag, kaum gewahr, dass sie dabei ihre Gabe einsetzte. Auch Rogo war sofort bei dem gestürzten Mädchen und beschnupperte sie vorsichtig. Tirvo und Johann, die erst vorsichtig zu Boden klettern mussten, stießen erst Minuten später dazu.

Mai-shins Hinterkopf war blutverschmiert. Sie hatte ihn sich offenbar an einem kleinen Felsbrocken angestoßen. Aurora hatte sie ein wenig auf die Seite gedreht und ihr den Nacken gestützt, sie aber ansonsten nicht bewegt, wie ihr Kampfkunstlehrer es ihr für solche Fälle beigebracht hatte.

„Sie lebt“, sagte Tirvo leise.

„Was tun wir jetzt?“, fragte Johann.

„Wir müssen einen Arzt holen!“, rief Aurora.

„Würde sie das wollen?“, entgegnete Johann zögernd. „Du weißt… unser Auftrag…“

„Aber wenn sie stirbt!“ Aurora war fassungslos. Natürlich war ihr klar, dass Johann von ihrem Pakt sprach, und dass ihr Plan, die Sternendiamanten zu finden, scheitern konnte, wenn sie jetzt einen Arzt riefen. Doch wie konnte das wichtiger sein als Mai-shins Leben?

„Ist sie denn so schwer verletzt?“, mischte Tirvo sich ein. „Vielleicht ist sie ja nur vorübergehend ohnmächtig.“

„Vielleicht stirbt sie aber auch, wenn wir nichts unternehmen!“, regte Aurora sich auf.

„Wie wäre es, wenn wir ein paar Minuten abwarten, ob sie wieder zu sich kommt?“, schlug Johann vor.

Die Elbin setzte zu einer Entgegnung an, wurde aber von einem lauten, kehligen Bellen unterbrochen.

„WUFF! WUFF-WUFF! WUFF!“

Unmittelbar nach dieser Äußerung preschte Rogo los, den Weg zurück, den sie gekommen waren.

„Er holt Hilfe“, stellte Tirvo fest. „Damit ist diese Frage wohl geklärt.“ Und er läuft alleine durchs Kriegsgebiet, ergänzte er in Gedanken. Hoffentlich passiert ihm nichts. „Wir müssen den Schatz jetzt rasch finden“, fuhr er fort. „Sonst kann Johann Mai-shins Gedanken nicht rechtzeitig übermalen.“

„Was? Ich dachte… also eigentlich ging ich davon aus, dass… dass ich das in Ruhe im Turm machen könnte…“, stotterte Johann.

„Du schaffst das schon.“ Tirvo klopfte ihm auf die Schultern. „Jetzt aber los! Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Er begann, erneut einen der von Rogo markierten Bäume empor zu klettern.
Nach einem letzten Blick auf die ohnmächtig da liegende Mai-shin setzte sich auch Aurora wieder in Bewegung. Sie würde wollen, dass wir weiter suchen. Ich will sie nicht enttäuschen.

***

„Auch nichts?“, fragte Tirvo ohne wirkliche Hoffnung. Die anderen schüttelten ihre Köpfe.

„Wir müssen irgendetwas übersehen haben“, murmelte Johann.

„Vielleicht gibt es noch eine weitere Spur, die Rogo nicht gefunden hat?“, schlug Aurora vor. Sie hockte neben der immer noch bewusstlosen Mai-shin und streichelte ihr vorsichtig den Handrücken.

„Dann können wir auch nichts mehr tun“, stellte Johann fest. „Hartmut wird natürlich das gesamte Gebiet systematisch absuchen lassen, aber wir werden keine Gelegenheit mehr haben, die Sternendiamanten an uns zu bringen.“

Frustriert warf sich Tirvo auf den Rücken. So nah – und doch gescheitert! Die Mittagssonne an dem wolkenlosen Himmel schien ihn zu verhöhnen. Wenn es wenigstens regnete! Das Wasser würde ihn ein wenig trösten. Er blinzelte und drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um nicht direkt in die Sonne zu schauen. Nur wenige Meter von ihm entfernt huschte ein Eichhörnchen den Stamm einer Eiche hinauf, hoppelte einen ihrer Äste entlang und sprang schließlich mit weit ausgestreckten Gliedern auf einen benachbarten Baumast.

Ruckartig setzte Tirvo sich auf. „Sie sind gesprungen!“

„Was? Wer?“, fragten die beiden anderen gleichzeitig.

„Die Katzen! Oder jedenfalls die, die den Schatz versteckt hat. Sie ist von einem der markierten Bäume auf einen anderen in der Nähe gesprungen. So konnte sie sicherstellen, dass keine Spur zu diesem Baum führt!“

„Ich glaube, du hast Recht!“, stimmte Johann ihm zu. „Suchen wir also einen Baum, der dicht genug an einem der von Rogo markierten wächst, dass eine Katze zwischen den beiden hin und her springen kann.“

Sie machten rasch drei geeignete Kandidaten aus, und jeder von ihnen erkletterte einen davon. Aurora war es schließlich, die ein schmales, jedoch recht tief erscheinendes Loch entdeckte. Ihre Hand passte nicht hinein, also tastete sie mit den Spitzen ihres Zeige- und Mittelfingers darin herum. Sie zuckte kurz zusammen, als einige Käfer ihre Finger entlang krabbelten. Dann jedoch glaubte sie, an ihren Fingerkuppen etwas Glattes, Weiches und Warmes zu spüren – Leder vielleicht?

„Ich glaube, ich habe etwas gefunden!“, rief sie aufgeregt. Angestrengt bemühte sie sich, das Objekt zwischen ihren Fingerspitzen einzuklemmen und hervor zu ziehen. Doch wieder und wieder rutschte sie ab, bis ihre Finger völlig verkrampft waren.

„Schaffst du es?“, rief Tirvo ihr von unten zu. Er und Johann standen jetzt am Fuß ihres Baums und starrten zu ihr hinauf.

Aurora schüttelte den Kopf. „Ich versuche etwas anderes.“ Sie rutschte auf dem Ast, auf dem sie saß, ein Stück zurück, streckte eine Hand in Richtung des Loches aus und konzentrierte sich. Ein leichter Luftzug wehte von ihren Fingern zum Stamm hin. Sie bemühte sich, aus diesem Luftzug einen heftigen Windstoß zu formen, welcher den Beutel in seinem Versteck lockern und vielleicht sogar zu ihr hinaus wehen sollte, aber es gelang ihr nicht, mehr als einen einigermaßen kräftigen Luftwirbel zu erzeugen, der ein paar Blätter löste und den Ast, auf dem sie saß, zum Schwanken brachte.

„Lass es mich versuchen!“, sagte Tirvo, der unterdessen zu ihr hoch geklettert war. Sie rutschte ein wenig zurück, um ihm Platz zu machen und entschied sich schließlich dafür, den Ast ganz zu verlassen und zu Boden zu schweben, bevor er noch unter ihrem vereinten Gewicht abbrach. Für einen Augenblick glaubte sie, dies würde ihr nicht gelingen, und sie würde genau so zu Boden stürzen wie Mai-shin, aber nach einem kurzen Schreck fing sie sich wieder und glitt sanft zu Boden.

Tirvo zog seinen Dolch hervor. Vorsichtig führte er ihn in die Spalte ein, bis er auf Widerstand stieß. Dann hob er ihn sanft an und zog ihn wieder zurück. Das Gefühl zusätzlichen Gewichts an der Klinge verriet ihm, dass die Dolchspitze sich in etwas verhakt hatte. Als er den Beutel bereits erkennen konnte, ging es jedoch nicht mehr weiter – Dolch und Beutel zusammen waren zu groß für die schmale Öffnung. Platz für seine Finger zum Zugreifen war aber auch nicht vorhanden.

Entschlossen zog Tirvo seinen Dolch mit einem Ruck heraus. Wie er gehofft hatte, kullerte der Beutel ihm entgegen, und er griff danach. Der Ast unter ihm schwankte, aber es gelang ihm, den Beutel zu fangen ohne abzustürzen. Er hatte es geschafft!

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Veröffentlicht on August 2, 2011 at 5:23 pm  Kommentar verfassen  

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