Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 16

*** Essenszeit ***

Ludwig und Tirvo hatten nach dem Schwimmen ihre Sachen zum Trocknen in die Sonne gelegt. Jetzt zogen sie sie wieder an und begaben sich zum Turm. Rogo war bereits voraus gelaufen.

„Ich hoffe, die beiden Mädels haben Mittagessen gekocht“, brummte Ludwig.

„Welche beiden Mädels?“, fragte Tirvo.

„Mareike und Tideline. Hartmut hat sie zum Essen machen eingeteilt – also, zumindest für Mittag- und Abendessen. Sich zum Frühstück ein paar Brote schmieren oder ein paar Eier in die Pfanne schlagen kann ja jeder selbst.“

„Und ihr anderen könnt kein Essen machen?“

„Naja, zumindest können die beiden es am besten. Bikkapuna, Hargor und Mai-shin können gar nicht kochen, jedenfalls nicht die Sachen, die wir hier in Arkheim essen. Ich habe es auch nie gelernt – zu Hause war meine Mutter dafür zuständig, und später habe ich eigentlich immer nur Fleisch am offenen Feuer gegrillt. Und Johanns Familie hatte eine Köchin.“

Während er sprach, ließ Ludwig beiläufig seine Axt kreisen, immer abwechselnd mit der rechten und der linken Hand. Tirvo bewunderte seine muskulösen Arme, die anderen Bürgern als Oberschenkel zur Ehre gereicht hätten. Zum Armdrücken würde er Ludwig gewiss nicht herausfordern.

„Aber hauptsächlich geht es Hartmut wohl einfach darum, dass die beiden nicht den ganzen Tag in ihrem Zimmer liegen und schlafen.“

„Wieso tun sie das?“, wollte Tirvo wissen.

„Äh, naja…“, begann Ludwig zu stottern.

„Schon klar“, seufzte Tirvo. „Man spricht nicht darüber.“

Schweigend gingen sie weiter. Plötzlich rief Ludwig: „He – Bikkapuna!“

Ein Dunkelmenschenjunge kam auf sie zu gerannt. Er war splitternackt. Tirvo hatte bisher nur einmal eine Dunkelmenschenfamilie in einem Schattenländer Reisezirkus gesehen. Auch diese hatte Bikkapunas tiefschwarze Haut und kurze, krause Haare besessen, aber er hatte sie nicht so verwachsen in Erinnerung. Bikkapuna schien einen krummen Rücken zu besitzen, lief vornüber gebeugt, mit beinahe bis zum Boden hängenden, seitlich baumelnden langen Armen und grinste ihn aus einem schiefen, pockennarbigen Gesicht mit einer platten Nase heraus an.

„Hallo, bin ich Bikkapuna. Bist du Tiwwo, neuer Schüler?“, sprach er ihn an. Er sprach die Gemeinsame Sprache mit einem sehr starken Akzent. Tirvo schätzte ihn ein paar Jahre älter als sich selbst ein.

„Äh… ja. Tirvo, eigentlich.“

Bikkapuna ergriff seine Hand und schüttelte sie kräftig, immer noch grinsend.

„Bist du von Tammis geflohen, hab ich gehört.“

„Tammis?“, fragte Tirvo verwirrt.

„Na, kommst du doch von Tammi-Schiff, aus Tammikratie!“

„Ach so – ja.“

„Jetzt aber alles gut, bist du in Arkheim!“ Bikkapuna strahlte ihn an. „Und gleich kommt Mittagessen!“

„Hoffentlich“, mischte Ludwig sich ein. „Ich habe mächtig Kohldampf!“

Sie gingen zusammen weiter.

„Trägst du eigentlich nie Kleidung?“, fragte Tirvo.

„Doch, aber nur wenn kalt ist.“

„In Wildland ist es wohl immer warm“, vermutete Tirvo. „Da könnt ihr Dunkelmenschen dann ja immer nackt herumlaufen.“

Bikkapuna blieb stehen. „Andere Dunkelmenschen laufen nicht nackt, tragen Kleidung! Bikkapuna früher auch Kleidung getragen, sogar ganz viel Kleidung. Tammis haben gesagt, Bikkapuna muss viel Kleidung tragen, damit keiner sieht, wie hässlich ist Bikkapuna. Soll sich schämen, wie er aussieht, Bikkapuna – ist Beleidigung für Engel!“

Der Dunkelmenschenjunge funkelte ihn trotzig an.

„Aber hier in Arkheim ist Engeln egal, wie Bikkapuna aussieht – sind nicht beleidigt. Bürger manchmal beleidigt, aber ist Bikkapuna egal – Bikkapuna ist grenzenlos! Wenn Bürger nicht wollen sehen hässlichen Bikkapuna, sollen wegschauen. Aber meiste Bürger nicht wegschauen, sogar Geld zahlen für Anblick. Freuen sich alle, dass nicht so hässlich wie Bikkapuna. Aber Bikkapuna egal – er hat Geld und ist nicht mehr Sklave von Tammis! Bikkapuna ist hässlich, aber frei!“

„So hässlich bist du doch gar nicht“, log Tirvo. „Und wenn schon, du hast recht, es gibt ja auch andere wichtige Dinge im Leben.“

Bikkapuna grinste. „Essen ist wichtig.“

Sie gingen weiter zum Turm.

***

Johann schenkte Aurora nicht nur das Bild, sondern auch noch einen Bilderköcher dazu – eine aufklappbare Rolle aus edlem Holz, in der sich eine zweite, kleinere Rolle befand, die verhinderte, dass man die Leinwand zu eng rollte, so dass sie brach, und die man mit einer simplen mechanischen Vorrichtung ein wenig auseinanderziehen konnte, so dass das Bild fest zwischen innerer und äußerer Rolle eingeklemmt war und sich beim Transport nicht abrieb. Vermutlich war dieser Köcher sehr kostbar, aber Aurora, die im Moment kaum an etwas anderes denken konnte, als an jenes wunderbare Portrait, welches Johann von ihr erstellt hatte, kam dies zunächst nicht in den Sinn.

Er zeigte ihr auch, wie man ein noch nicht völlig trockenes Gemälde vorsichtig zusammen mit einem dünnen Stück Samt einrollte, so dass es nicht verschmierte oder fleckte und sich nicht an sich selbst rieb. Dabei wies er sie darauf hin, dass dieses Einrollen nur dann möglich sei, wenn ein Bild vollständig mit so genannten „Harzfarben“ gemalt war – eine Bemerkung, welche Aurora nur deswegen im Gedächtnis blieb, da Johann erwähnte, dass diese Sorte Farben ausschließlich in der Anstalt hergestellt würde. Schon wieder diese Anstalt! Was für ein geheimnisvoller Ort mochte dies nur sein?

Nachdem Johann seine Sachen zusammengepackt hatte, gingen sie zusammen mit Mai-shin zum Turm, wo es, so wurde Aurora gesagt, Mittagessen geben würde.

Der Turm stand auf leicht erhöhtem Grund hinter der Biegung des Baches hin zum See. Er besaß einen quadratischen Grundriss mit einer Fläche von etwa sieben mal sieben Metern und war aus hellem Stein gemauert. An den schmalen Fenstern konnte Aurora erkennen, dass er vier Geschosse besaß. Auf seine ehemalige Aussichtsplattform war zusätzlich ein kuppelförmiger hölzerner Aufbau gesetzt worden.

„Als in diesen Hügeln noch Orks lebten, war hier ein Trupp Arkheimer Soldaten stationiert“, erklärte Johann. „Sie beobachteten die Bewegungen der Orks und entzündeten ein Signalfeuer, um Kaperstadt zu warnen, wenn diese sich zusammenrotteten. Als Kaperstadt dann wuchs und seine militärische Stärke zunahm, konnten die Orks weiter nach Osten getrieben werden, und dieser Turm hier wurde nicht mehr benötigt. Stattdessen wurde in den Hügeln ein Horst für eine Staffel Greifenreiter errichtet“ – er zeigte auf die Ruine, die Aurora schon von Petra Eichlers Haus aus gesehen hatte – „welche die Region großflächig überwachte. Aber nach der Schlacht am Blutfluss war diese Gegend hier bald orkfrei, und auch die Greifenreiter wurden abgezogen.“

„Die Anstalt hat dann vor einigen Jahrzehnten den Turm renovieren und mit einem Aufbau versehen lassen, damit er einem reisenden Fürsprecher als Wohnung dienen konnte. Grenzenlose von der fernländischen Südküste, aber auch von der Arkheimer Flotte gerettete tagmokratische Flüchtlinge gelangen ja in der Regel erst einmal nach Kaperstadt, wo sie auf ihr ordentliches Fürsprechverhältnis vorbereitet werden. Allerdings waren die Kaperstädter nicht besonders glücklich damit, eine Wohnstatt für vor kurzem noch vogelfreie Grenzenlose mitten in ihrer Stadt zu haben. Deswegen wurde dieser Turm hier als Quartier eingerichtet.“

Sie betraten das Gebäude durch eine niedrige Tür, aus der ihnen der Geruch nach Gebratenem entgegen kam. Eine weite Küche mit einem großem Esstisch nahm den Hauptteil des Erdgeschosses ein. Darin befanden sich ein Menschen- und ein Halblingmädchen, beide ebenfalls ungefähr in Auroras umgerechneten Alter.

Das Menschenmädchen stand am Herd und hantierte mit einer großen Pfanne. Es war schlank, dunkelhaarig und sehr bleich. Die Halblingin, ein etwas dickliches, braun gelocktes Mädchen mit grünen Augen, saß am Küchentisch und schnitt mit demonstrativer Lustlosigkeit und Langsamkeit Gemüse.

Johann stellte sie vor. „Aurora, das hier sind Mareike Schneider und Tideline Tulpenduft.“

Aurora gab beiden die Hand. „Hallo. Ich bin Aurora Yirell.“

Mareike lächelte sie kurz an und wandte sich wieder dem Herd zu. Tideline legte ihr Messer aus der Hand und fragte:

„Yirell? Dein Vater ist im Konzil, nicht wahr?“

„Jetzt nicht mehr.“ Aurora bemühte sich, ihre Tränen zurückzuhalten. „Er ist tot.“

„Oh.“ Das Halblingmädchen sah sie schockiert an. „Das tut mir leid.“

„Du stammst auch aus Urland?“, fragte Aurora, der aufgefallen war, dass Tideline in der gleichen Weise wie sie sprach, um das Thema zu wechseln.

„Aus Schattenland, genau wie du. Vielleicht hast du ja von den Tulpendufts gehört.“

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Aurora diplomatisch.

„Wir waren die wichtigsten Pflanzenzüchter Schattenlands. Die Inquisition hatte uns schon einige Zeit im Blick, und als meiner Familie klar wurde, dass ich grenzenlos bin, sind wir über den Ozean geflohen.“

„Deine Familie ist also auch hier?“

„Mein Großvater hat die Reise nicht überlebt, aber die übrigen haben es geschafft. Sie leben jetzt in Dammdorf, einem Stadtteil von Arkheim, in dem auch viele andere Halblinge wohnen, und beginnen unser Geschäft neu aufzubauen. Wir konnten leider nicht viel mitnehmen, aber das wichtigste Saatgut haben wir gerettet.“

Mareike sprach sie zaghaft an. „Bist du mit dem Gemüse so weit, Tideline?“

Tideline schüttelte den Kopf und griff widerwillig nach dem Messer. Aurora beobachtete, dass sie auf einmal mit raschen, geübten Bewegungen im Stakkato-Tempo Scheiben schnitt, ohne dabei richtig hinzusehen.

„Kann ich helfen?“, fragte die Elbin zögernd, obwohl sie in ihrem bisherigen Leben eine Küche eigentlich nur betreten hatte, um sich vor dem Schlafengehen vom Koch etwas zu naschen zu holen.

„Lass nur. Offensichtlich bedeutet grenzenlos zu sein in Arkheim ja, zur Köchin degradiert zu werden.“

„Besser, als in Wildland als Sklave zu arbeiten“, warf Aurora mit ein wenig Schärfe in der Stimme ein.

„Das mag ja sein, aber ich sehe trotzdem nicht ein, dass Hartmut ausgerechnet mich zum Kochen verdonnert hat.“ Sie stand mit dem Schneidebrett auf und ging zum Herd, wo sie das geschnittene Gemüse zielsicher mit einem Streich ihres Messers in einen Kochtopf schnippte. Dann kurbelte sie beiläufig den Herdring, auf dem der Topf statt, ein wenig höher, um die Wärmezufuhr zu drosseln, griff nach einem Kochlöffel, probierte ein wenig von der Soße, die in einer Kasserolle köchelte und wies Mareike an, noch einen halben Becher Sahne und einen halben Teelöffel Salz hinzu zu geben. Danach setzte sie sich wieder zu Aurora.

„Warum denken die Leute eigentlich immer, dass alle Halblinge kochen können?“, fragte sie verärgert.

Aurora verkniff sich ein Grinsen. „Kann es nicht sein, dass du wirklich ganz gut kochst?“

„Naja, ab und zu habe ich früher schon mal zum Spaß ganz gerne gekocht. Aber ich bekoche doch keine anderen Leute – ich bin doch keine Köchin!“

„Hilfst du mir beim Tischdecken, Tideline?“, fragte Mareike. Die Angesprochene sah sie wütend an.

„Ich helfe dir.“ Aurora stand eilig auf.

„Wir werden zu acht sein, plus Rogo“, informierte Mareike sie. „Hargor ist noch bis zum Abend unterwegs, und Hartmut bereitet etwas für euch vor.“

Als sie ihr die Teller aus dem Geschirrschrank reichte, bemerkte Aurora zahlreiche frische Schnittwunden an ihrem Unterarm. „Was hast du denn da gemacht?“, fragte sie.

„Oh… Das waren die Katzen, die Tideline und mich manchmal besuchen. Manchmal sind sie ein wenig unbedacht mit ihren Krallen.“

Aurora sagte dazu nichts. Bei Tideline war ihr jedenfalls nichts dergleichen aufgefallen, und die Schnitte an Mareikes Armen waren zu gleichmäßig und zu tief, um von Krallen unvorsichtiger Katzen zu stammen.

Plötzlich stürmte ein nackter, dunkelhäutiger Junge herein. „Essen! Ist Essen fertig, nicht wahr?“

Direkt hinter ihm betraten Ludwig und Tirvo die Küche, und auch Mai-shin und Johann, die zwischenzeitlich ihre Zimmer aufgesucht hatten, gesellten sich zu ihnen, ebenso wie Rogo. Nach einer kurzen erneuten gegenseitigen Vorstellung setzten sie sich an den Tisch – Rogo lag an der Seite Ludwigs und bekam einen Extrateller – und aßen.

Jedenfalls an die Mahlzeiten hier könnte ich mich gewöhnen, dachte Tirvo.

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Veröffentlicht on Januar 28, 2011 at 11:49 pm  Kommentar verfassen  

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