Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 43

*** Ludmilla Lauerbach ***

„Hugo Eisenarm heißt der Besitzer also.“ Tirvo versuchte, sich nicht darüber zu ärgern, dass Johanns Methode Erkundigungen einzuziehen um so viel erfolgreicher gewesen war als seine.

„Die Geißel der Tagmokratie. Von ihm und vom Fliegenden Arkheimer hatte ich schon gehört, aber ich wusste nur, dass er in den Ruhestand gegangen war. Dass ihm der Goldene Anker gehört, ist mir neu.“

„Und die Leute erzählen sich also, er habe auf seinen Fahrten Reichtümer angehäuft.“

Johann zuckte mit den Schultern. „Die Leute erzählen viel. Es kann ja schon sein, dass er etwas angespart hatte, aber ich denke, das ist dann für den Goldenen Anker draufgegangen. So billig kann der Bau eines Gasthauses da draußen nicht gewesen sein. Naja, und wenn er dazu noch regelmäßig in diesem Bordell war…“

„Der Rote Salon“, erinnerte sich Tirvo. „Kennst du den?“

„Ich war ein paar Mal da, aber die Frauen trafen nicht meinen Geschmack.“ Johann grinste, als Tirvo ihm einen schockierten Blick zuwarf. „Ich weiß nichts darüber, Tirvo. Über Bordelle haben wir uns bei mir zu Hause nicht unterhalten. Aber ich denke nicht, dass es allzu schwer zu finden sein wird.“

Johann behielt Recht – bereits der erste Hafenarbeiter, den sie darauf ansprachen, wies ihnen ohne Fragen zu stellen den Weg. Seinen Anweisungen folgend, fanden sie sich in einem Gewirr verwinkelter Gassen zwischen Lagerhäusern und kleinen Schuppen, zwei- bis dreihundert Meter vom Hafen entfernt, wieder. Nach Einbruch der Nacht würde diese Gegend vermutlich ziemlich finster wirken, dachte Tirvo.

Der Rote Salon befand sich in einem mehrstöckigen Gebäude, das auf den ersten Blick wie ein normales Wohnhaus aussah, bis man die zugezogenen, schweren, dunkelroten Vorhänge an allen Fenstern bemerkte. Außerdem war da noch jener bestimmt zwei Meter große, muskelbepackte Mann mit kahlgeschorenem Kopf, der sich gegen den Türrahmen lehnte und in einstudiert wirkender Weise mit einem langen Messer seine Fingernägel reinigte. Tirvo schluckte kurz und steuerte dann zielstrebig auf ihn zu.

„Hallo, wir sind Grenzenlose und wollten fragen…“

„Ein Silberstück“, unterbrach ihn der Mann ohne aufzusehen. Tirvo sah ihn irritiert an. Seine Stimme war dünn und sehr hoch, so wie die eines Mädchens, welches noch nicht das Schüleralter erreicht hatte.

„Nein, Sie haben mich missverstanden. Ich wollte nur fragen…“

Der Mann drehte sich zu ihm um, wodurch sein Messer jetzt ungefähr in die Richtung von Tirvos Kehle wies. „Ich habe dich schon verstanden. Du willst Fragen stellen. Ich beantworte aber keine Fragen, also musst du Eintritt zahlen, um sie drinnen zu stellen, und der Eintritt beträgt ein Silberstück.“

„Ich habe aber kein Silberstück“, antwortete Tirvo kleinlaut, immer noch verwirrt von der Fistelstimme des Mannes.

„Tja.“ Der Mann setzte die Reinigung seiner Fingernägel fort.

Tirvo schlich zu Johann zurück, der in ein paar Metern Entfernung wartete. „Er lässt mich nur durch, wenn ich ihm einen Silberschilling gebe.“

„Ich habe es gehört“, sagte Johann. Er kramte in seinem Geldbeutel und zog einen Schilling heraus. „Willst du, oder soll ich? Für uns beide zu zahlen, wäre Geldverschwendung, denke ich.“

„Geh ruhig du, schließlich ist es ja dein Geld“, meinte Tirvo niedergeschlagen. „Außerdem bist du ja offensichtlich geschickter darin, dich mit Frauen zu unterhalten.“

„Vielleicht findest du dafür ja auch irgendwann ein bisschen Zeit?“, entgegnete Johann anzüglich. „Aber in Ordnung – ich gehe.“

***

Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Johann zurückkehrte.

„Hast du dich gut amüsiert?“, konnte Tirvo sich nicht verkneifen zu fragen.

Johann lächelte. „Wer hätte gedacht, dass man für nur einen Silberschilling so viel Spaß haben könnte?“ Dann wurde er ernst. „Ich habe mich mit ein paar von den Frauen unterhalten. Einige von ihnen kannten Hugo Eisenarm noch persönlich. Er war wohl früher regelmäßig Stammkunde hier, über viele Jahre. Anfangs soll er es noch ziemlich wild getrieben haben, oft auch mit mehreren Frauen, aber später hat er dann eine Lieblingshure gehabt und nur noch diese besucht. Ludmilla hieß sie, Ludmilla Lauerbach. Sie arbeitet aber heute nicht mehr hier. Sie hat sich irgendwo zur Ruhe gesetzt – angeblich mit Geld von Hugo – aber wo sie heute lebt, wollten oder konnten mir die Frauen nicht sagen. Es heißt, Hugo und Ludmilla seien am Ende richtig eng befreundet gewesen, und er hätte ihr versprochen, sich um sie zu kümmern, wenn sie die Hurerei aufgeben wollte. Das hören die Frauen im Roten Salon zwar ziemlich oft, aber Hugo scheint es ernst gemeint und ihr dann auch tatsächlich Geld gegeben zu haben, als sie hier aufhörte.“

„Dann könnte diese Ludmilla uns also vielleicht mehr über Hugo erzählen, wenn wir sie finden“, folgerte Tirvo. „Aber wie stellen wir das an?“

„Hören wir uns weiter am Hafen um“, schlug Johann vor. „Sie hat ja damals gewiss eine Menge Kunden gehabt. Vielleicht weiß einer von denen etwas.“

Sie machten sich auf den Weg zurück zum Hafen.

***

Tirvo stellte rasch fest, dass in Kaperstadt offensichtlich jeder von Hugo Eisenarm, der Geißel der Tagmokratie, sowie von seinem Schiff, dem Fliegenden Arkheimer, gehört hatte, wenngleich auch nur wenige ihn mit dem Goldenen Anker in Verbindung brachten. Er fand es unterdessen auch leichter, Gespräche in den Kneipen zu beginnen – tatsächlich genügte es meistens, Hugos Namen zu erwähnen, und schon begann eine allgemeine Unterhaltung über die legendären Heldentaten des Kapitäns, über die Wildheit und Grausamkeit seiner Mannschaft, sowie über den Schatz, den er angeblich irgendwo versteckt hatte. Nützliche Informationen allerdings ließen sich aus diesen Plaudereien keine ziehen, und was Ludmilla anging, hörten sie zwar mehrfach die Bestätigung, dass diese Hugos Lieblingshure im Roten Salon gewesen sei, aber niemand schien etwas über ihren Verbleib zu wissen.

Es wurde Mittag, und Tirvo trug sich bereits mit dem Gedanken, die Fragerei aufzugeben, als Johann ihn anstupste und auf einen etwas älteren Mann wies, der an einen Pfosten gelehnt am Kai saß und auf das Meer hinaus starrte. „Was hältst du davon, den zu fragen?“

Tirvo schüttelte den Kopf. „Der will bestimmt in Ruhe gelassen werden.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Johann mit einem Lächeln.

„Wie willst du das wissen?“, fragte Tirvo.

„Seine Weinflasche ist leer.“ Johann drückte ihm ein paar Kreuzer in die Hand. Tirvo seufzte und ging zurück in die Kneipe, aus der sie eben gekommen waren, um eine volle Flasche zu besorgen.

Dann setzte er sich zu dem Mann. „Hast du vielleicht einen Korkenzieher? Du kannst gerne auch ein paar Schlucke nehmen.“

„Klar doch.“ Der Mann zog einen hervor, öffnete die Flasche mit einer geübten Bewegung und setzte sie gleich an, bevor er sie Tirvo zurück gab. „Du bist grenzenlos, Junge, oder?“

Der nickte bestätigend. „Ich heiße Tirvo.“

„Tobias“, antwortete dieser. „Bist du nicht trotzdem ein bisschen zu jung, um Wein aus der Flasche zu trinken?“

Tirvo zuckte die Achseln. „Vielleicht. Ich muss ja auch nicht die ganze Flasche trinken, aber mir war halt gerade danach. Ist schon ein komisches Gefühl, wenn man erfährt, dass man grenzenlos ist und plötzlich alles tun darf, was auch Erwachsene dürfen. Ich habe auch schon überlegt, ob ich nicht dem Roten Salon einen Besuch abstatten sollte, aber das ist mir dann wohl doch zu teuer.“

„Oh ja, der Rote Salon!“ Tobias griff erneut nach der Flasche, obwohl Tirvo noch gar nicht daraus getrunken hatte. „Nicht ganz billig, aber die Mädels da sind ihr Geld schon wert. Ich war allerdings schon länger nicht mehr drin – das Geld wird im Alter halt knapp. Naja, und eigentlich war ich ja sowieso immer nur wegen Ludmilla da.“

„Ludmilla Lauerbach?“, fragte Tirvo mit nur ungenügend unterdrückter Aufregung in der Stimme nach.

„Genau die – du hast von ihr gehört? Sie arbeitet da ja seit knapp drei Jahren nicht mehr, aber natürlich erinnern sich die Leute noch an sie. Ludmilla war einfach die schönste Frau im Roten Salon – ach was, in ganz Kaperstadt! Ich war ihr Lieblingskunde, weißt du.“

Tobias behielt die Weinflasche in der Hand, und Tirvo protestierte nicht.

„Weißt du, viele Frauen haben ja einen schönen Körper und ein strahlendes Lächeln – aber Ludmilla hatte Augen… Unglaubliche Augen. Wie ein Sonnenaufgang über dem Meer. Da konntest du dich drin verlieren.“

Erneut setzte Tobias die Flasche an den Mund, länger diesmal, und leerte sie bis zur Hälfte.

„Was ist denn eigentlich aus ihr geworden?“, fragte Tirvo vorsichtig.

„Hat sich eines Morgens davon gemacht, mit einem kleinen Maultierkarren, auf dem sie ihre ganzen Habseligkeiten hatte. Ich hätte sie ja geheiratet, aber sie meinte, sie wolle lieber unabhängig bleiben. War nicht die Art von Frau, die sich fest binden wollte – nun ja.“

„Wohin ist sie denn gegangen?“, hakte Tirvo nach.

„Sie wollte mir nicht sagen, wohin. Wollte alle Verbindungen zu ihrem früheren Leben kappen, hat sie gesagt. Musste ich halt akzeptieren.“

Tirvo seufzte leise, und Tobias schien dies zu bemerken. „Du suchst sie, Junge – oder?“

„Was – ich? Nein, Unsinn – wieso sollte ich sie denn suchen?“

„Was weiß ich, ihr Grenzenlosen müsst ja immer die merkwürdigsten Sachen machen. Naja, wenn du sie findest, grüß sie vom alten Tobias, in Ordnung?“

„Mach ich“, versprach Tirvo und stand auf. „Den Wein kannst du behalten.“

Tobias nickte abwesend, nahm einen weiteren Schluck und sah auf das Meer hinaus.

***

„Wir sind also immer noch keinen Schritt weiter“, fasste Tirvo zusammen, nachdem er Johann von seinem Gespräch mit Tobias erzählt hatte.

Der überlegte. „Vielleicht schon. Den Karren hat sie sich doch bestimmt bei Fudor geliehen, da könnte man doch mal nachfragen.“

„Fudor?“, fragte Tirvo.

„Der Karren- und Maultierverleih Fudor. Den benutzen hier in Kaperstadt viele, wenn sie umziehen oder etwas transportieren müssen.“

„Was es nicht alles gibt“, schüttelte Tirvo den Kopf.

Der Verleih war nur zwanzig Minuten Fußweg entfernt, ein großes, umzäuntes Gelände am südlichen Stadtrand mit zahlreichen Stallungen, an dessen Eingang sich ein kleines Büro befand, in dem eine Halblingfrau als Sekretärin tätig war.

„Ihr wollt also eine Auskunft“, stellte diese fest, nachdem sie ihr Anliegen vorgetragen hatten. „Für Fragen nach Vermietungen, die zwischen ein und fünf Jahren zurückliegen, beträgt der Auskunftstarif 50 Kreuzer.“

Johann hatte seine Hand bereits an seinem Geldbeutel, und Tirvo begann langsam ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, weil er ihn alles bezahlen ließ. Aber er kann es sich ja offensichtlich leisten, dachte er, und außerdem kann er es sich bestimmt von Hartmut wiederholen.

Die Halblingfrau quittierte Johann den Erhalt des Geldes, zog einen Aktenordner hervor, auf dem „559 A.Z.“ stand und begann darin zu blättern.

„Ludmilla Lauerbach – ah ja: 3-2 Septimus bis 4-2 Septimus, ein Maultier, ein zweirädriger Karren, für einen privaten Transport nach Blattgrund, Tier und Gerät wurden in ordnungsgemäßem Zustand zurück gebracht. Kann ich euch sonst noch behilflich sein?“

„Wo liegt denn dieses Blattgrund?“, fragte Tirvo in der Hoffnung, dass für diese Auskunft nicht erneut eine Gebühr fällig würde.

„Knapp zweieinhalb Stunden Fußweg südlich von Kaperstadt, ein kleines Fischerdorf an der Küste. Wollt ihr einen Karren für den Weg mieten?“

Johann sah Tirvo an. „Wollen wir?“

Der zuckte mit den Schultern. „Wenn du bezahlst – warum nicht?“

„Ich habe jedenfalls keine Lust, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen. Und wir wollen doch nach Blattgrund, oder?“

„Klar“, stimmte Tirvo zu. „Weißt Du denn, wie man mit einem Maultier umgeht?“

„Unsere Tiere sind hervorragend abgerichtet und besonders gutwillig“, warf die Halblingin ein. „Wenn ihr einfach nur der Straße nach Blattgrund folgt, finden sie den Weg ganz von allein.“

„Na dann“, meinte Johann und zog erneut seinen Geldbeutel hervor.

Eine Viertelstunde später saßen sie zurück gelehnt in einem ausgepolsterten Karren und ließen sich von einem stoisch dahin trottenden Maultier die sonnenbeschienene Straße nach Blattgrund entlang ziehen.

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Veröffentlicht on Mai 20, 2011 at 7:01 pm  Kommentar verfassen  

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