Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 7

*** Flucht ***

Das Schlimmste war der Heilige Stahl. Die um Auroras Fußknöchel gespannten Bänder, mit denen sie über eine weniger als einen Meter lange Kette an die Bordwand des Schiffes gefesselt war, schmerzten sie in einer Weise, die sie nicht verstand – ein wenig wie Brennen, ein wenig wie Frost, vor allem jedoch wie eine offene Wunde, durch die etwas aus ihrem Inneren entfloh, das kein Blut war, sondern etwas noch Grundlegenderes, eine Substanz, deren Existenz ihr vorher nicht einmal bewusst gewesen war, bevor sie ihr Entweichen durch das gesegnete Metall spürte.

Tirvo und sie waren in einem winzigen Laderaum weit unter der Wasserlinie gefangen, so schmal, dass sie selbst angekettet beinahe in der Lage waren, die gegenüberliegende Wand zu erreichen; gerade tief genug, dass sie, ausgehend von den verschiedenen Ecken des Raumes, in denen ihre Ketten Befestigung fanden, einander mit den Fingerspitzen berühren konnten, wenn sie sich ausstreckten; und so niedrig, dass die Matrosen, die sie gelegentlich aufsuchten, um ihnen Essensreste und ein wenig frisches Wasser zu bringen – aber auch, um sie immer wieder zu schlagen, zu treten, anzuspucken und zu verfluchen – nur gebückt stehen konnten.

Trotz der Misshandlungen sah Aurora diesen Besuchen mit Sehnsucht entgegen, bedeuteten sie doch, dass für eine kurze Zeit ein schwacher Abglanz von Sonnenlicht und ein Hauch von einigermaßen frischer Luft zu ihnen in die beinahe vollständige Dunkelheit und den fauligen, strengen Geruch von Algen, Schimmel und ihren eigenen Körperausscheidungen drangen. An das ständige Rollen des Schiffes, welches sie, da sie keinen festen Halt auf dem Boden fanden, unaufhörlich hin und her rutschen ließ, hatte sie sich nach wenigen Tagen gewöhnt, ebenso wie an das Gefühl von Rattenpfoten, wenn diese Tiere bei ihrer Suche nach Nahrung ohne Furcht auf ihrem Leib herumliefen. Sie war dem Ekel, den Schmerzen, der körperlichen Schwäche und selbst der völligen Verzweiflung gegenüber abgestumpft, doch das Gefühl des Heiligen Stahls auf ihrer Haut blieb unerträglich und schien mit jedem weiteren Tag unerträglicher zu werden.

Sie waren nunmehr acht oder neun Tage auf dem Meer unterwegs – da war sie sich mit Tirvo uneins, ohne dass es ihnen wichtig genug erschien, sich darüber zu streiten. Die erste Zeit hatten sie stumm gelitten, kaum miteinander gesprochen, gerade einmal ihre Namen ausgetauscht. Als jedoch die Einsamkeit nach einigen Tagen immer schwerer auf ihnen lastete, hatten sie einander ihre Schicksale erzählt – zögernd zuerst, zurückhaltend, langsam ausführlicher werdend, bis sie einander schließlich ihre Herzen ausschütteten, begreifend, dass ein Leidensgefährte, welcher ihr Schicksal verstand, weil er es selbst durchlitt, den einzigen Trost darstellte, welcher ihnen geblieben war. Schließlich schwiegen sie wieder, nachdem alles berichtet war, was sie in ihre jetzige Lage gebracht hatte. Von ihrem früheren Leben, dessen Tage ihnen in der Rückschau glücklich und unbeschwert schienen, erzählten sie nichts; diese Erinnerungen behielten sie eifersüchtig für sich – nicht, dass sie sie auch noch verlören, wenn sie sie laut aussprachen.

Ein Tag im Dunkeln glich dem anderen, der Heilige Stahl schien ihnen die ureigene Essenz ihres Seins zu entziehen, und mit jedem Schlingern brachte das Schiff sie näher zu einem fremden Kontinent, wo sie ein Leben in Sklaverei erwartete. Wer der Grenzenlosigkeit anheim fällt, dessen Weg führt geradewegs in die Hölle, und dort gibt es keine Hoffnung. Überschreite die dir gesetzten Grenzen, und alles, was du finden wirst, ist Verdammnis. So stand es im Kodex, und die Wahrheit dieser Worte erfuhren Aurora und Tirvo unmittelbar.

***

Es war nicht die Lautstärke der Rufe, die Tirvo aus dem Halbschlaf aufschrecken ließ, es war ihre Intensität. Obwohl er die Stimmen nicht verstand, hörte er ein ihm unterdessen nur zu vertrautes Gefühl heraus: Angst. Vielleicht war es auch das Geräusch der Schritte an Deck – schneller, hektischer, vor allem aber zahlreicher als sonst. Was geschah dort oben?

Dann hörte er die Explosionen. Zuerst weit entfernt, ähnlich Donnergrollen, jedoch schärfer. Bald darauf aber kam die Antwort, direkt über ihren Köpfen. Obwohl er noch nie gehört hatte, wie eine Kanone abgefeuert wurde, verstand er, dass ihr Schiff sich ein Feuergefecht lieferte. Doch mit wem? Er erinnerte sich, dass die Schiffe des Meerbundes gelegentlich von Piraten angegriffen wurden, Abtrünnigen, die nach Fernland ausgewandert waren. Es hieß, sie machten keine Gefangenen.

Aurora war ebenfalls wach – er konnte hören, wie ihre Kette sich bewegte – doch sie sagte nichts. Vermutlich lauschte sie angestrengt, ebenso wie er, in dem Versuch herauszufinden, was genau vor sich ging.

Jetzt polterten Stiefel den Gang direkt über ihren Köpfern entlang.

„FEUER! FEUER!“

„Sie haben das Heck in Brand geschossen!“

„Rettet das Knallpulver!“

„Keine Zeit – in wenigen Minuten gehen wir hoch. In die Boote!“

Die Luke, die zu ihrem Kabuff hinabführte, wurde geöffnet. „Was ist mit den Ketzern?“

„Keine Zeit!“

Ein Matrose sprang zu ihnen hinunter. „Dann will ich mich wenigstens angemessen verabschieden!“

Durch das wenige die Luke hinab fallende Licht erkannte Tirvo das Gesicht des Mannes. Er war derjenige, der sie am häufigsten und am übelsten misshandelt hatte. Zielstrebig kam er näher.

„Grenzenloser Abschaum!“

Die Faust des Matrosen schlug in seinem Magen ein. Sein nach Alkohol und Kautabak stinkender Atem drang in seine Nase und übertönte für einen Augenblick den Gestank ihres Gefängnisses.

„Ich wünschte, ich hätte den Meister der Anstalt von Arkheim vor meinen Fäusten. Verstehst du mich, Ketzer?“

Tirvo hörte ihn, aber er verstand nicht. Er krümmte sich. Der Matrose sprang die Leiter wieder empor.

„Viel Spaß in der Hölle!“

Die Luke ließ er offenstehen. Das hereinfallende Licht flackerte. In Tirvos Schoß glitzerte etwas. Ungeschickt griff er danach: Es waren drei kleine Metallobjekte. Zwei davon stellten ein merkwürdig gewundenes, ineinander verdrehtes Band dar. Das dritte…

…aber war das möglich?

Das dritte schien ein Schlüssel zu sein.

In diesem Moment erschütterte ein gewaltiger Schlag das Schiff. Das Licht wurde heller, Männer schrien. Ein Schwall Wasser stürzte durch die Luke herein. Zwei der metallenen Objekte entfielen Tirvos Fingern und schlitterten über den Boden dem Abflussgitter entgegen.

***

„Aurora!“

Die Elbin hatte die glitzernden Gegenstände bemerkt. Als einer davon an ihr vorbeitrieb, griff sie danach…

… und ließ ihn mit einem Schrei wieder fallen. Sie hatte dieses Symbol schon einmal gesehen, in einem der alten Bücher aus der Yirellschen Bibliothek: Das Band, das kein Innen und kein Außen besaß, das nur aus einer einzigen, grenzenlosen Seite bestand; das unheilige Zeichen allen Grenzenlosen und Bösen, das dämonische Höllenmal der Verdammten!

„Der Schlüssel!“

Was für ein Schlüssel? Da, tatsächlich, über einem Abflussgitter hing er. Jeden Augenblick konnte er durch ein leichtes Schlingern des Schiffes hinab fallen. Aurora streckte sich, doch er befand sich wenige Zentimeter außerhalb ihrer Reichweite.

Der Boden des Schiffes begann sich zu neigen. Der Schlüssel kam ins Rutschen. In Tirvo brandete ein Gedanke auf – das Wasser musste ihm helfen! In seinem Geist formte er eine Welle, die den Schlüssel von dem Gitter fortspülte.

Er schrie auf. Aus dem unbestimmten, dumpfen Schmerz des Heiligen Stahls an seinen Füßen war ein sengendes Feuer geworden. Doch gleichzeitig entstand tatsächlich eine Welle aus dem sie umgebenden Wasser und riss den Schlüssel mit sich, weg vom Abflussgitter, in die Mitte der gegenüberliegenden Wand – ebenso weit von Aurora entfernt wie zuvor.

Die Elbin hob das Grenzenlose Zeichen wieder auf – war sie nicht bereits verdammt? – und nahm es zwischen ihre Fingerspitzen. Dann streckte sie sich wieder nach dem Schlüssel, versuchte ihn mit einer der Schlaufen des Bandes einzufangen, doch es gelang ihr nicht.

Plötzlich wurde sie gewahr, dass keine Stimmen oder Schritte mehr von oben zu hören waren, nur noch das Ächzen des Holzes, das Gurgeln des Wassers und – wenn sie es sich nicht nur einbildete – das Prasseln der Flammen. Verzweifelt gab sie den Plan auf, nach dem Schlüssel zu angeln, sondern stieß ihn stattdessen mit aller Kraft in Richtung Tirvo.

Der riss an seiner Kette, bis seine Gelenke knackten – und bekam den Schlüssel zu fassen. Sofort steckte er ihn in das Schloss an seinen Fußfesseln und versuchte ihn zu drehen…

…und stellte fest, dass er nicht passte. Natürlich! Hatte er wirklich geglaubt, auf diese Weise Rettung zu finden? Dann jedoch erkannte er, dass er ihn lediglich falsch herum eingeführt hatte. Ein erneuter Versuch… und er war frei!

Rasch kniete er vor Aurora nieder und erlöste auch sie von ihrer Kette. Dann kletterten sie mit steifen Gliedern die Leiter zur Luke hinauf. Im Schiffsgang war die Luft von Rauch erfüllt. Hustend erkämpften sie sich ihren Weg an Deck. Wie viel Zeit hatten sie noch, bis das Knallpulver explodierte?

Rettungsboote waren keine mehr vorhanden. Tirvo erspähte einen großen, in einiger Entfernung im Wasser treibenden Balken. Ohne nachzudenken, sprang er über Bord. Aurora, die keine andere Möglichkeit sah, folgte ihm. Er umfasste sie mit einem Arm an der Hüfte und schwamm auf den Balken zu.

Kaum hatten sie diesen erreicht und ihre vollständig erschöpften Körper darüber geworfen, ging mit einem ohrenbetäubenden Donner die Welt unter, und sie verloren das Bewusstsein.

zum nächsten Kapitel
zur Kapitelübersicht
Veröffentlicht on Dezember 22, 2010 at 9:12 pm  Kommentar verfassen  

Hinterlasse einen Kommentar