Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 85

*** Eine Prüfung ***

„Heinrich ist der unterrichtende Fürsprecher für Wachstumszauber und mitverantwortlich für die Gewächshäuser der Anstalt“, erklärte Patrick, während Mukoko darüber nachdachte, ob er es wagen sollte, sich den Speichel des Mannes wieder aus dem Gesicht zu wischen, oder ob von ihm erwartet wurde, ihn darin zu behalten – möglicherweise war dies eine Art Ritual, bei dem ein Schüler seinem zukünftigen Fürsprecher seine Bereitschaft zeigte, sich diesem unterzuordnen?

„Hallo“, sagte er unsicher. Heinrich lächelte ihm zu und ging dann an ihm vorbei in den Raum, wo er sich neben Patrick setzte und leise mit diesem sprach – zu leise, und auch zu rasch, als dass Mukoko ihrem Wortwechsel in der Gemeinsamen Sprache hätte folgen können, aber er glaubte, seinen Namen heraus zu hören.

Doch es dauerte nicht lange, da war dieses Gespräch bereits wieder beendet, und Heinrich stand auf. „Lass uns zum Gewächshaus gehen“, sagte er. Er verließ den Raum. Mukoko blickte noch einmal kurz zu Patrick, der ihm lächelnd zunickte und folgte dann.

Sie gingen die Treppe hinunter und nahmen den Weg zurück zur Tür, durch die Mukoko die Anstalt betreten hatte. Einige Katzen saßen jetzt dort neben der Schwelle und betrachteten sie aufmerksam. Heinrich ignorierte die Pfoten jedoch, und Mukoko tat es ihm nach.

Sie überquerten den Anstaltsvorplatz und betraten wieder die Straße, über die Mukoko mit den Seeleuten zum Anstaltsgelände gelangt war, doch sie bogen bereits nach wenigen Schritten links in einen abschüssigen Pfad ein, welcher zwischen Felsen hindurch zum weit tiefer gelegenen Strand zu führen schien. Sie folgten ihm jedoch nicht dorthin, sondern steuerten auf eine Gruppe von Gebäuden zu, welche sich zu ihrer linken Hand befanden. Einige davon besaßen Wände ganz aus Glas!

Die Gebäude schienen alle miteinander verbunden zu sein. Sie betraten das erste davon durch eine Tür aus Glas, und Mukoko bemerkte, dass darin die Luft sehr warm und sehr feucht war, so ähnlich wie in dem Wald, an dessen Rand sein Heimatdorf lag; doch was weitaus mehr seine Aufmerksamkeit erregte, waren die zahllosen unterschiedlichen Pflanzen, die sich dort befanden.

Deswegen heißt es also Gewächshaus – es ist ein Haus, in dem Pflanzen wachsen!, dachte der Junge fasziniert. Gerne wäre er stehen geblieben, um die ihm fremden Gewächse näher zu betrachten, aber Heinrich schritt weiter voran, und er beeilte sich, ihm zu folgen.

Sie durchquerten mehrere weitere Türen und einige Verbindungsgänge. In einer großen gläsernen Halle kamen sie an gewaltigen Ameisenhaufen vorbei. Für einen Augenblick glaubte Mukoko, ein Kind mit dunkler Haut dazwischen herumhuschen zu sehen. Heinrich blieb jedoch nicht stehen.

Schließlich erreichten sie einen etwas kleineren Raum, in dem Dutzende große Töpfe aus Ton auf dem Boden standen, die mit unterschiedlichen Arten von Erde und Sand gefüllt waren. Auch einige Pflanzen befanden sich dort, die in ähnlichen, kleineren Töpfen wuchsen. Heinrich führte ihn zu einer dieser Pflanzen, einer langstieligen Blume mit schilfartigen Blättern und hängenden rosa Blüten.

„Dies hier ist eine Trichterlilie aus dem urländischen Süden“, sagte er. „Sie wächst nicht richtig. Sage mir, warum.“

Mukoko sah ihn fragend an. „Weil… sie ist hier falsch? Weil… sie besser wachsen soll in Urland?“

Heinrich schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie ist hier nicht heimisch, das ist richtig, aber trotzdem kann sie hier wachsen, wenn man ihr alles gibt, was sie benötigt. Das ist nicht anders als mit Bürgern, Mukoko.“

„Also… hat sie nicht… was sie braucht?“, fragte Mukoko, weiterhin unsicher.

„Sage du es mir“, entgegnete der Mann.

Mukoko trat näher an die Blume heran, berührte vorsichtig ihre Blätter mit seinen Fingerspitzen, konzentrierte sich auf ihre Empfindungen. Zunächst erhielt er nur verwirrende Eindrücke – die Pflanze war ihm fremd. Dann aber gelang es ihm nach und nach, sich in sie einzufühlen. Ja, sie war schwach, vielleicht sogar ein wenig krank, unzufrieden… etwas fehlte ihr. Etwas, was sie brauchte, um kräftig zu wachsen.

Der Junge sah hoch. „Ja… ich weiß… sie kann nicht wachsen… sie muss… essen…“

Heinrich sah ihn erwartungsvoll an, doch Mukoko stellte fest, dass ihm die Wörter fehlten – bereits in seiner eigenen Sprache, denn er hatte sich nie Gedanken darum gemacht, wie er die Eindrücke, welche Pflanzen ihm vermittelten, in die menschliche Denkweise übertragen konnte; und um so mehr in der Gemeinsamen Sprache, die er nur bruchstückhaft beherrschte.

„Braucht… Erde… richtige Erde…“, bemühte er sich.

Heinrich sagte weiterhin nichts. Mukoko sprang auf und lief zu den großen Töpfen hinüber, sah in sie hinein. Durch einige fuhr er mit den Fingern. Schließlich schöpfte er aus einem Topf eine Handvoll bräunlich-roter, grobkörniger Erde und lief damit zu der Blume zurück.

„Hier… ist richtige Erde… muss Pflanze essen“, sagte er und hielt seine gefüllten Hände Heinrich entgegen.

Dieser lächelte. „Ja, Mukoko, das ist korrekt – die südländische Trichterlilie benötigt einen stark kupferhaltigen Nährboden, um richtig zu wachsen.“

Mukoko strahlte. Er hatte Heinrichs letzten Satz nicht verstanden, aber er hatte begriffen, dass dies eine Prüfung gewesen war, und dass er sie bestanden hatte.

***

Sie verbrachten noch mehrere Stunden im den Gewächshäusern der Anstalt. Immer wieder stellte Heinrich ihm Fragen zu Pflanzen, die Mukoko nicht kannte, und jedes Mal bemühte der Junge sich, diese Fragen zu beantworten. Seine Begeisterung für diesen Ort wuchs dabei – hier gab es so viel Interessantes zu entdecken! Sie redeten lange miteinander, und auch wenn Mukoko nur einen Teil dessen verstand, was Heinrich sagte, fühlte er doch, dass er diesen mit seinen Fähigkeiten beeindruckte. Dankbar erinnerte er sich daran, wie N’Waga ihn ermutigt – naja, eher schon genötigt – hatte, den größten Teil seines Lebens im Wald und in der Steppe zu verbringen und die dort wachsenden Pflanzen kennen zu lernen und zu verstehen. Jetzt begriff er, dass dieses Wissen wichtig war, und dass er anderen damit helfen konnte!

Zwischendurch aßen sie gemeinsam einige Früchte als Mittagessen. Mukoko begann, sich hier bereits heimisch zu fühlen – dies war ein viel besseres Zuhause als das Dorf der Kipuna, in dem die Menschen ihn nicht mochten oder schätzten! Der Tag ging vorüber, und irgendwann standen sie wieder vor dem Eingang, durch den sie die Gewächshäuser betreten hatten. Heinrich blickte ihn mit nachdenklichem Gesicht an, und Mukoko sah mit einem strahlenden Lächeln zurück.

„Tut mir leid, Mukoko – es hat keinen Sinn“, sagte der Mann zu ihm.

Mukokos Lächeln wurde schwächer und wich schließlich einem ängstlichen Gesichtsausdruck. „Was hat keinen… Sinn… Heinrich?“, fragte er vorsichtig.

„Du kannst in diesem Jahr noch kein Anstaltsschüler werden. Die Kurse beginnen in wenigen Wochen, und deine Beherrschung der Gemeinsamen Sprache ist einfach nicht ausreichend.“

„Ich… ich kann nicht… dein Schüler sein, Heinrich?“, fragte Mukoko traurig.

„Doch, Mukoko – wenn du möchtest, bin ich bereit, dich in einem provisorischen Fürsprechverhältnis als meinen Schüler zu akzeptieren. Aber die Anstalt kommt noch zu früh für dich. Du musst zunächst lernen, die Gemeinsame Sprache besser zu beherrschen und zu verstehen; und du musst lesen und schreiben lernen! Das würde jetzt einfach viel zu lange dauern, als dass es Sinn hätte, dich bereits zu unterrichten.“

Heinrich legte Mukoko seine Hand auf die Schulter. „Pass auf, ich mache dir folgenden Vorschlag: Du wirst für die Dauer eines Jahres mein Schüler. Du wirst allerdings nicht in der Anstalt leben können – ich denke, ich kann dich bei einer Freundin in Lindenstatt unterbringen. Sie heißt Tyola Atalyame. Dort wird es dir gefallen – das ist ein Dorf der Grünelben; ein Volk, welches im Wald lebt und Pflanzen, besonders Bäume, sehr schätzt. Ich kann dich ab und zu besuchen kommen, aber natürlich werde ich die meiste Zeit hier in der Anstalt verbringen. In diesem Jahr wirst Du fleißig Lesen und Schreiben lernen und allgemein dein Gemein verbessern. Wenn du dies tust, kannst du dann im nächsten Jahr Anstaltsschüler werden. Was hältst du davon?“

Mukoko überlegte nicht lange. „Ja! Ja, ich will… lernen… und dann Schüler werden. Ich will!“

Heinrich lächelte ihn an. „Dann lass uns jetzt ins Rektorat gehen und die nötigen Papiere aufsetzen. Ich denke, du wirst auch bereits ein richtiges Grenzenloses Zeichen erhalten – aber keine Sorge“, unterbrach er sich, als Mukoko sich an seinen Bauch griff, „ich bin sicher, du darfst auch das Zeichen, welches dein Ziehvater dir gegeben hat, behalten. Aber eines noch: Hier in Arkheim haben die meisten Bürger Vor- und Nachnamen. Mukoko ist ein guter Vorname, denke ich, aber vielleicht möchtest du auch einen Nachnamen. Hast du eine Idee, wie du heißen möchtest?“

Wie möchte ich heißen?, fragte sich Mukoko. Er überlegte eine Weile. Dann sagte er zögernd: „Auf Schiff… auf zweites Schiff, Menschen haben immer gesagt, ich bin Junge aus Urwald. Ich finde, klingt schön. Kann ich heißen… Mukoko Urwald?“

„Natürlich, Mukoko, so kannst du gerne heißen. Jetzt komm, dann erledigen wir diese Dinge.“

Heinrich spuckte ihm ins Gesicht und wandte sich zum Gehen. Mukoko, der bald Mukoko Urwald heißen würde, folgte ihm zufrieden.

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Veröffentlicht on März 2, 2012 at 1:45 pm  Kommentar verfassen  

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