Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 91

*** Schüler der Anstalt ***

„W-w-w-w-wie Ha-hartmut mir e-e-e-e-erzählt hat, ha-ha-ha-hast du noch k-k-keine k-klare Vo-vorstellung davon, we-we-we-we-we-we-we-welche Fä-fächer d-du be-be-belegen wi-willst.“

Tirvo schüttelte den Kopf. „Uns wurde gesagt, unsere neuen Fürsprecher würden uns dabei beraten.“

„Ri-richtig.“ Beatrice zog ein Blatt Papier hervor. „I-i-i-i-ich ha-habe mich mit Ha-hartmut b-b-b-b-besprochen, u-und be-bereits einen p-p-p-p-p-p-p-p-p-p-p-passenden St-st-stundenplan f-für di-dich erstellt.“

„Oh. Danke“, erwiderte der Junge etwas überrumpelt. Naja, andererseits hätte es wohl auch eine Ewigkeit gedauert, mit ihr darüber zu sprechen…

„I-i-i-i-ich h-habe d-d-dir z-zwei Mal ku-ku-ku-kursfrei ge-ge-ge-geben, d-d-d-d-damit d-d-du mehr Z-zeit zum Ü-üben u-und ein w-w-wenig F-f-f-f-f-f-f-f-f-f-f-f-freizeit h-hast. N-n-natürlich zu-zu-zusätzlich z-zu d-den b-beiden Ü-ü-ü-ü-ü-ü-übungst-tagen.“

„Mhm“, antwortete Tirvo ein wenig unhöflich, aber er war bereits damit beschäftigt, den Plan zu betrachten. Ja, da waren die acht Grundkurse – Naturkunde 1, Metaphysik 1, Gesellschaftskunde 1, Ritualisierung 1, Gesundheit 1, Symbolismus 1, Mathematik 1 und Konzentration 1. Und natürlich hatte er Wasserzauber bei seiner neuen Fürsprecherin. Seefahrt, Schwimmen und Elementekunde überraschten ihn auch nicht – aber wieso sollte er Handwerk und Klettern belegen?

Er fragte danach, und Beatrice erklärte ihm umständlich – als wenn eine kurze Antwort bei ihr nicht bereits lange genug dauern würde! – dass es für die Gabe Wasser zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten gebe, bei welchen handwerkliches Verständnis von Vorteil sei, und dass es auch auf Schiffen immer etwas zu reparieren gebe. Außerdem habe Hartmut ihr erzählt, dass er ja bereits in der Tagmokratie bei seinen Eltern öfters bei Handwerksarbeiten ausgeholfen habe.

Tirvo konnte sich nicht erinnern, dass er Hartmut je davon erzählt hatte – aber natürlich war das ja auch nicht nötig gewesen, fiel ihm wieder ein.

„Und Klettern?“, fragte er.

Seine neue Fürsprecherin setzte ihm auseinander, dass sie es für sinnvoll hielt, wenn er den einen oder anderen Kurs belegte, welcher nicht unmittelbar mit seiner Gabe zu tun hatte, dass es auf See ja auch durchaus einige Gelegenheiten gab, bei denen es von Vorteil war, gut klettern zu können, und dass seine Aufträge ihn schließlich auch in bewaldete und bergige Gegenden führen konnten.

„G-g-g-g-g-gibt es d-denn e-etwas, w-was d-d-du li-lieber be-belegen w-würdest?“, fragte sie ihn.

„Naja…“ Tirvo zögerte kurz. „Orkkunde oder Fernkampf klingen eigentlich ganz interessant.“

Die alte Frau schüttelte langsam den Kopf. „T-t-t-t-tirvo – O-orkkunde ist etwas für Sch-schüler mit un-un-un-unmittelb-bar k-kampfbezogenen G-gaben.“

„Mhm.“ So wichtig war ihm dieser Kurs eigentlich gar nicht, aber es gefiel ihm nicht, wie wenig Mitspracherecht er letztlich zu haben schien. „Und was ist mit Fernkampf? Das ist doch gerade sinnvoll, wenn ich mich aus unmittelbaren Kampfhandlungen heraushalten soll. Und ich könnte lernen, mit einer Harpune umzugehen…“

„Nein, Tirvo Banrus – Fernkampf ist nicht das Richtige für dich“, sagte Beatrice plötzlich sehr bestimmt. „Glaub mir.“

Na toll, dachte Tirvo. So viel dazu, dass meine eigenen Wünsche auch etwas gelten. Wahrscheinlich ist ihr völlig egal, was ich will, und sie hat einfach keine Lust, von ihrem bereits fertigen Plan abzuweichen.

„Na schön“, murrte er. „Dann ist ja wohl alles geklärt.“

„W-w-w-w-wenn d-d-du n-noch i-irgendwelche F-fragen zur A-a-a-anstalt hast, d-dann k-kannst du sie mi-mir je-je-jetzt st-st-stellen, Tirvo.“

Der Junge schüttelte den Kopf. Dieses Gespräch dauert eh bereits viel zu lang. Dann aber kam ihm doch eine Frage in den Sinn.

„Was ist eigentlich das Beeindruckendste, was man mit der Gabe Wasser tun kann?“

Beatrice Lusovic sah ihn mit tadelndem Blick an. „T-tirvo, e-e-es g-geht nicht d-darum, be-be-be-ei-ei-ei-eindruckende D-dinge zu t-tun, sondern d-darum, seine G-gabe s-sinnvoll ei-einzusetzen u-und zu k-k-k-k-kontrollieren.“

„Schon klar.“ Tirvo bemühte sich halbherzig, seine Ungeduld zu unterdrücken. „Es würde mich aber trotzdem interessieren.“

Sein Gegenüber seufzte leise. Dann spürte Tirvo auf einmal, wie ihm Flüssigkeit über das Gesicht und in den Nacken lief, und wie seine zusammengebundenen Haare ihm plötzlich über die Schultern fielen. Er griff nach seinem Stirnband, fand aber nur Feuchtigkeit vor. Seine Finger hatten sich hellblau gefärbt – in der Farbe seines Stirnbands.

Das ist kein Wasser, wurde ihm schlagartig klar. Das ist mein Stirnband. Sie hat mein Stirnband aus Leinen verflüssigt. Das geht doch eigentlich gar nicht!

Tatsächlich war das durchaus ziemlich beeindruckend – aber das Beeindruckendste, was man mit seiner Gabe anstellen konnte?

Beatrice sah ihn schweigend an, während er sich sein Haar aus dem Gesicht strich. Dann begann es ihm zu dämmern:

Sie hätte auch mich verflüssigen können.

***

„Ich habe mich mit Hartmut besprochen, Aurora, und da du selbst ja noch keine Pläne gemacht hast, habe ich nach seinen Ratschlägen bereits einen Stundenplan für dich erstellt.“

„Danke sehr“, sagte das Elbenmädchen höflich, als Sophia ihr ein Blatt Papier reichte. Ich hätte mich allein auch bestimmt nicht entscheiden können.

Eifrig studierte sie die tabellarische Übersicht, welche ihre neue Fürsprecherin angefertigt hatte. Natürlich würde sie Luftzauber bei ihr belegen, sowie Levitation und Elementekunde. Auch Kampfkunst und Fernkampf überraschten sie nicht, obwohl sie bislang nur als Nahkämpferin trainiert hatte, aber für jemanden, der fliegen konnte, boten sich Fernkampfwaffen natürlich an. Und dann war da noch… Schmerztoleranz?

Sophia bemerkte ihren Blick. „I-ich f-fürchte, für jemanden, der vermutlich recht häufig in K-kampfhandlungen verwickelt wird, ist das ein äußerst w-wichtiger Kurs.“

„Schon in Ordnung“, murmelte Aurora. Es gibt Schlimmeres als körperliche Schmerzen.

„An zwei Nachmittagen hast du frei, damit du mehr Zeit zum Üben und etwas Freizeit hast.“

„Ich finde Wetterzauber eigentlich ziemlich faszinierend. Könnte ich das nicht auch machen?“ Vielleicht kann ich lernen, Blitze zu schleudern, dachte Aurora.

Die Menschenfrau schüttelte langsam den Kopf. „Nicht in den ersten beiden Kursjahren, Aurora. Du darfst dir nicht zu viel auf einmal aufbürden, und die Kurse, die du belegst, werden dich bereits genug fordern. Später dann, wenn du deine Gabe besser beherrschst, ergibt es auch Sinn, sie auf verwandte Gebiete anzuwenden – aber jetzt wäre es dafür noch zu früh.“

„Ich könnte doch stattdessen später mit Fernkampf anfangen“, schlug Aurora vor. „Wetter hat doch viel mit Luft zu tun, oder?“

„Sehr viele Dinge haben mit Luft zu tun, Aurora. Deswegen ist die Gabe, die du besitzt, auch sehr mächtig. Fernkampf ist erst einmal das Richtige für dich. Glaub mir.“

„Na schön.“ Ich werde sie wohl nicht umstimmen können.

„Wenn du noch irgendwelche Fragen zur Anstalt hast, dann wäre jetzt ein geeigneter Moment, um sie zu stellen.“

„Ja… Also, Hartmut hat Ihnen doch bestimmt gesagt, dass Tirvo und ich bei der Anstalt Schulden haben…“

„Jeweils zwei Goldmark, ja, natürlich. Aber mach‘ dir darüber erst einmal keine Gedanken, Mädchen – in den ersten beiden Jahren ist es zunächst am wichtigsten, dass du dein Lernpensum bewältigst und lernst, deine Gabe zu kontrollieren.“

„Ich würde mir aber gerne ein wenig Geld dazu verdienen“, hakte die Elbin nach. Ich will nicht, dass Johann mich immer einladen muss.

„Wirklich, in der Anfangszeit solltest du dich besser auf deine Studien konzentrieren, Aurora. Du erhältst doch auch Taschengeld, und alle wichtigen Dinge bekommst du ja von der Anstalt gestellt. Mit der Rückzahlung deiner Schulden kannst du dir Zeit lassen, wirklich.“

„In Ordnung… danke schön“, murmelte Aurora.

„Hast du sonst noch Fragen?“

Das Mädchen überlegte. „Hm… Naja, ich denke halt viel darüber nach, welche Dinge mit meiner Gabe alles möglich wären… Ich meine“, lachte sie „vielleicht könnte ich mich zum Beispiel ja in Luft auflösen?“

„MACH DARÜBER BITTE KEINE WITZE, AURORA!“ Plötzlich blickte die alte Frau sie sehr streng an.

„Entschuldigung“, entgegnete die Elbin kleinlaut. Sie sieht ja geradezu wütend aus! „Ich habe dann keine weiteren Fragen mehr.“

Schweigend folgte sie Sophia aus dem Zimmer. Hatte sich vielleicht einer ihrer früheren Schüler… unbeabsichtigt, natürlich… in Luft aufgelöst? Könnte mir das etwa auch passieren?

***

„Marianne, was ist denn mit dir los – kriegst du keine Luft?“

Aurora hatte das Menschenmädchen zusammen mit Tideline vor der Mensa inmitten eines guten Dutzends Katzen vorgefunden, die fast alle schnurrten und dabei den Kopf auf und ab bewegten. Sie lachen, erinnerte sie sich. Marianne stand mit hochrotem Kopf vor einer mit höchst eingeschnapptem Gesichtsausdruck da sitzenden Tideline, hüpfte auf der Stelle und wackelte hektisch mit ihren Händen hin und her.

„Ja… nein… Aurora, das muss ich dir erzählen… sie hat…“ Marianne deutete glucksend mit beiden Händen auf das sich demonstrativ abwendende Halblingmädchen. „Sie hat…“ Dann prustete sie los und hielt sich dabei den Bauch.

„Was ist denn hier so lustig?“, fragte Tirvo, der auch gerade hinzu getreten war.

Abwehrend wedelte Marianne einige Sekunden lang, immer noch lachend, in seine Richtung. Dann holte sie tief Luft und nahm einen neuen Anlauf: „Tideline… wir haben auf unsere Fürsprecher gewartet… und dann kam ein junger Menschenmann auf uns zu… der war ziemlich klein… also richtig klein… für einen Menschen, meine ich… und dann hat sie… sie hat…“

Erneut gab sich das Mädchen einem Lachanfall hin. Tideline sah weiterhin mit unbewegtem Gesicht zur Seite.

„Sie hat ihn wohl ziemlich unhöflich angestarrt…“, fuhr Marianne schließlich fort. „Jedenfalls hat der Mann sie gefragt, warum sie ihm so komisch anguckt, und dann hat sie… dann hat sie…“

Tideline atmete mit einem hörbar genervten Seufzer aus.

„Dann hat sie ihm geantwortet, es täte ihr leid“, erzählte die immer noch mit aufsteigendem Gekicher kämpfende Marianne, „Aber er sähe halt ein wenig ungewöhnlich aus… und sie hätte… sie hätte… sie hätte ihn zuerst beinahe für einen Zwerg ohne Bart gehalten!“

Erneut lachte Marianne. Tirvo und Aurora tauschten Blicke. Das war also so komisch? Immerhin hatten sie ja mit Hargor bereits einen bartlosen Zwerg gesehen, auch wenn dieser natürlich eine einmalige Ausnahme wegen seines Wahnsinns gewesen war – da war der Gedanke nicht vollständig absurd.

„Wartet… das beste kommt ja noch… Der Mann… er lächelt sie an… und dann gibt er ihr die Hand und sagt… dann sagt er…“ Das Mädchen holte erneut Luft, um sich auf die Pointe der Geschichte vorzubereiten. „Er sagt also: Guten Tag, Tideline, mein Name ist Krangor Starkhammer, und ich bin dein neuer Fürsprecher!

Wieder brach Marianne in lautes Gelächter aus, und selbst Tideline grinste jetzt.

Ach du Scheiße!, dachte Tirvo. Was für eine peinliche Art, seinen neuen Fürsprecher kennenzulernen! Aber auch er musste lachen. Wer rechnet denn auch mit noch einem Zwerg ohne Bart!

Nachdem sich das Menschenmädchen schließlich doch irgendwann beruhigt hatte, erzählte sie ihnen auch von ihrer Fürsprecherin. „Belinda heißt sie, Belinda Krull – sie ist unheimlich nett, eine Menschenfrau, und sie kann auch mit Katzen sprechen!“

Das wundert mich jetzt nicht besonders, dachte Aurora.

„Sie kann sich sogar in eine Katze verwandeln!“, strahlte Marianne begeistert.

Na gut – jetzt bin ich doch beeindruckt, gestand Aurora sich ein. Laut sagte sie: „Habt ihr auch schon eure Grenzenlosen Zeichen eintätowiert bekommen?“

„Ja, natürlich.“ Marianne drehte sich um und zog ihre Bluse ein wenig tiefer, um ihnen das unwirklich glitzernde Zeichen zu zeigen. „Es hat auch kaum weh getan. Und wir haben auch bereits alle Papiere unterzeichnet und unser erstes Taschengeld erhalten. Was ist mit euch?“

Aurora und Tirvo nickten. „Dann sind wir jetzt also offiziell Schüler der Anstalt“, stellte der Menschenjunge fest.

„Wisst ihr was mit Johann und Mai-shin ist?“, fragte Aurora. „…und mit Bikkapuna?“, ergänzte sie.

„Von Johann und Mai-shin weiß ich nichts“, meldete Tideline sich zu Wort, „doch bei den beiden brauchst du dir gewiss keine Sorgen zu machen. Aber Krangor hat mir erzählt, Bikkapuna hätte die Sprachprüfung nicht bestanden und würde deswegen nicht als Schüler aufgenommen werden.“

„Oh.“ Das war nicht wirklich eine unerwartete Neuigkeit, aber Aurora empfand sie trotzdem als bedrückend. „Was wird denn jetzt aus ihm? Ist er wieder vogelfrei?“

Tideline schüttelte den Kopf. „Krangor meinte, er würde noch eine Chance erhalten, weil seine Gabe etwas Besonderes ist. Er ist jetzt für noch ein weiteres Jahr Schüler in einem provisorischen Fürsprechverhältnis bei einem reisenden Fürsprecher, der ihm die Gemeinsame Sprache beibringen soll, während sie zusammen… Aufträge für die Anstalt ausführen.“

Aufträge also. Tirvo war das kurze Zögern der Halblingin nicht verborgen geblieben. Das klingt nicht ungefährlich. Aber ist denn nicht auch das Leben in der Anstalt gefährlich? Wir sind schließlich gewarnt worden!

Er sah über den grünen Rasen des Anstaltsvorplatzes hinweg zum Meer, welches im Licht der bereits recht tief stehenden Sonne funkelte und glitzerte. Bis jetzt ist es doch eigentlich gar nicht so übel hier.

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Veröffentlicht on Juni 3, 2012 at 11:59 pm  Kommentar verfassen  

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