Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 80

*** Abschiede ***

Als Aurora am nächsten Morgen vom Frühstückstisch aufstand, winkte Hartmut sie beiseite.

„Ja, Hartmut?“, fragte sie ein wenig unsicher. Hatte sie schon wieder etwas falsch gemacht?

Ihr Fürsprecher ignorierte ihre im Geist formulierte Frage. „Aurora, ich möchte, dass du mir das Bild leihst, das Johann von dir gemalt hat.“

Das Bild? Warum? „Natürlich, Hartmut“, sagte sie, löste den Riemen von ihrer Schulter und gab es ihm, um dann doch ihre Verwunderung in Worte zu fassen: „Darf ich fragen, wieso?“

„Nein“, antwortete ihr Fürsprecher, nahm den Köcher an sich und ließ sie stehen.

Eine schlimme Vorahnung ereilte die Elbin. Sie ging zurück in die Küche, wo Bikkapuna und Johann mit dem Abwasch begonnen hatten. Johann blickte kurz zu ihr herüber, ließ sein Geschirrtuch fallen und nahm sie in den Arm.

Durch das Küchenfenster sah Aurora, wie Hartmut, mit Rogo im Gefolge, den Bilderköcher über seiner Schulter, Richtung Kaperstadt ging.

***

Es war schon beinahe Mittag, als Tirvo, Mai-shin und Marianne zurückkehrten. Tirvo war sehr schweigsam, deswegen erstatteten die beiden Mädchen Bericht davon, wie sie Pia gefunden hatten, und was ihre Pläne waren. Sie hatten die Entscheidung, ob sie noch etwas in dieser Angelegenheit unternehmen wollten, Tirvo überlassen, und dieser hatte beschlossen, Pias Geheimnis zu wahren. Das Mädchen hatte sich mit einem letzten Kuss von ihm verabschiedet und war dann in das Gasthaus zurückgekehrt, während die Schüler sich mit Piet und Ebbe auf den Rückweg gemacht hatten.

Marianne, die sich von der Rückfahrt unterdessen einigermaßen erholt zeigte, begann unaufgefordert damit, Mittagessen zuzubereiten. Offenbar hatte sie in Kaperstadt Linda abgeholt und diese mit zurück zum Turm gebracht, und die beiden unterhielten sich jetzt in der Küche angeregt und für alle anderen Schüler völlig unverständlich in der Katzensprache.

Aurora bemerkte, dass Mai-shin sie mehrmals fragend ansah, aber das Elbenmädchen verspürte keine Lust, mit ihr über den Verbleib von Johanns Bild zu reden. Wahrscheinlich hat sie eh bereits wieder die richtigen Schlussfolgerungen gezogen, dachte sie. Sie saß an Johann gekuschelt auf der Terrasse, die Augen geschlossen, und bemühte sich, ihren Geist möglichst leer zu halten und einfach den Moment zu genießen – die Strahlen der Sommersonne auf ihren Wangen, die zärtlichen Berührungen ihres Freundes, die fröhlichen Maunz- und Schnurrgeräusche aus der Küche.

Dann aber erreichte ein anderer Laut in ihre Ohren, zunächst zwar leise, aber eindringlich, und sich langsam an Lautstärke und – wenn sie sich dies nicht nur einbildete – Intensität steigernd.

Das Heulen eines Hundes.

Lauter und lauter wurde das Geräusch. Marianne kam aus der Küche. Mai-shin erschien, mit einem Buch unter dem Arm und einer Amsel auf der Schulter, aus Richtung des Flusses. Tirvo kam vom See herbeigelaufen.

„Huu-huuu! Huu-huu-HUUU!“

Hartmut und Rogo gelangten in Sicht. Der Mensch stapfte mit gleichmäßigen, entschlossenen Schritten voran, während der Hund alle paar Schritte stehen blieb, seinen Kopf zurück warf und laut aufheulte, bis er wieder zu Hartmut aufschloss.

„Huu-huu-huu-HUUU!“

Keiner der Schüler sprach. Dies war der Wildhund, welcher einer Spur bis zu einer Löwenhöhle gefolgt war; der ohne zu zögern allein durchs Kriegsgebiet gelaufen war, um ärztliche Hilfe für die verletzte Mai-shin zu holen; und er jaulte, dass es die Engel erbarmen musste.

„HUUU-HUUU-HUUUUU!!!“

Aurora hätte am liebsten mitgeheult – die Frage, die zu stellen sie sich nicht getraut hatte, nicht einmal sich selbst gegenüber, war beantwortet. Bewegungslos stand sie auf der Terrasse und erwartete, gemeinsam mit den anderen Schülern, die Rückkehr ihres Fürsprechers.

Endlich erreichten Mann und Hund den Turm. Rogo warf seinen Kopf für ein letztes Heulen zurück. Dann drehte er sich um und rannte in Richtung Waldrand. Hartmut blieb stehen und sah sie der Reihe nach an.

„Er ist glücklich gestorben“, sagte er.

Er nahm den Bilderköcher und reichte ihn der Elbin, aus deren Augen nun doch Tränen flossen, zurück.

„Was… was soll ich jetzt damit machen?“, schluchzte sie.

„Was immer du für richtig hältst“, antwortete ihr Fürsprecher und betrat den Turm. Aus der Küche hörte man Marianne langsam bis sieben zählen.

***

Aurora saß allein in ihrem Zimmer auf ihrem Bett. Sie hatte Johann darum gebeten, eine Zeitlang für sich sein zu können, und ihr Freund hatte sich gefügig entfernt. Neben ihr lag aufgeschlagen eines der Bücher über die Anstalt, die Hartmut ihnen gegeben hatte, damit sie sich auf das Leben dort gedanklich vorbereiten konnten, aber ihr Blick ging aus dem Fenster hinaus, zum strahlend blauen Sommerhimmel, der sich weigerte, auch nur die kleinste Wolke zu zeigen, um ihrer Stimmung einen passenderen Rahmen zu bieten.

Es klopfte an der Tür. Aurora murmelte irgendetwas Abweisendes, aber da öffnete sie sich auch schon, und Tirvo betrat den Raum. Er griff nach dem Stuhl, auf dem Mai-shin immer saß, wenn sie spät abends noch lernte, und setzte sich ihr gegenüber.

„Ich bin vor deinem Zimmer Bikkapuna begegnet“, sagte er.

„Ja, er… er hat mich gefragt…“

„Er will das Bild sehen, richtig?“, unterbrach Tirvo sie.

Aurora nickte. „Ja.“

„Findest du nicht, dass du etwas unternehmen solltest?“, bohrte er nach.

Sie antwortete nicht. Ihre Füße tasteten nach dem Bilderköcher, der unter dem Bett lag.

„Was sagt denn Johann dazu?“, ließ Tirvo nicht locker.

„Johann… er meinte, es sei jetzt mein Bild und meine Entscheidung, und er werde sie akzeptieren, wie immer sie auch ausfallen würde. Aber ich glaube, es würde ihm sehr weh tun, wenn ich… wenn ich…“

„Wenn du das Bild vernichten würdest?“, sprach Tirvo es endlich aus.

Die Elbin nickte widerstrebend. Dieses wunderschöne Gemälde zu zerstören war… undenkbar.

„Würde es ihm mehr weh tun, als es Ludwig weh getan hat?“, fragte Tirvo brutal. „Und mehr, als es vermutlich bald Bikkapuna weh tun wird?“

Aurora sah zu Boden. „Du hast ja Recht“, flüsterte sie.

Tirvo stand auf. „Ich gehe dann jetzt in der Küche das Feuer schüren.“

Das Elbenmädchen blieb sitzen. Ohne, dass es ihr bewusst war, streichelten ihre Füße sanft den kostbaren Bilderköcher.

***

Nach einer halben Stunde betrat sie schließlich die Küche. Es war sonst niemand hier – vermutlich hatte Tirvo den anderen Bescheid gegeben. Das Herdfeuer brannte heiß.

Mit einem Seufzer öffnete Aurora den Köcher und entrollte ein letztes Mal das Gemälde. Was für ein wunderschönes Bild. Es war nicht nur Johanns erstaunliche Gabe, die ihn befähigt hatte, dieses einzigartige Kunstwerk zu erschaffen – es war auch seine Liebe zu ihr. Auf diesem Porträt konnte sie sich so sehen, wie er sie sah.

Minutenlang betrachtete sie das Bild erneut in allen Einzelheiten, ließ dann wieder den Gesamteindruck auf sich wirken, versank in dem Zauber, den es ausstrahlte. Wenn sie jemand anderem so unvergleichlich schön erschien – wie konnte sie dann eine schlechte Bürgerin sein?

Endlich löste sie sich von dem Anblick und rollte die Leinwand sorgfältig wieder ein, bevor sie sie vorsichtig in den Köcher zurückschob. Ich kann dieses Bild nicht verbrennen. Es ist das Schönste, was mir jemals geschenkt wurde, und es ist ein Zeugnis von Johanns Liebe. Es muss einen anderen Weg geben.

Als sie aufblickte, sah sie Johann in der Tür stehen, der sie mit nachdenklichem und traurigem Gesichtsausdruck betrachtete. Sie breitete ihre Arme aus, und der Junge kam zu ihr gelaufen, umarmte und küsste sie. „Ich liebe dich, Aurora“, sagte er, als hätte er es nie zuvor gesagt, und sie klammerte sich fest an ihn.

Dann aber löste er sich von ihr und griff nach dem Bilderköcher, der auf dem Küchentisch lag. Er öffnete ihn, nahm das Bild heraus und ging damit zum Feuer. Aurora hielt den Atem an.

Johann zögerte. Er blickte auf die Leinwand in seiner Hand. Schließlich, beinahe widerwillig, entrollte er sie, betrachtete sein eigenes Werk. Eine Minute stand er so da, seine Augen starr auf das Gemälde gerichtet. Aurora sah ihn so unverwandt an wie er das Bild.

Der Junge sah zu ihr hoch und lächelte sie an. „Ich liebe dich, Aurora“, sagte er. Ohne seine Augen von ihr zu lösen, warf er mit der linken Hand die Leinwand ins Feuer. Das Bild verbrannte zu Asche, doch keiner der beiden hatte einen Blick dafür übrig; sie sahen einander fest in die Augen.

***

Ludwigs Beerdigung war am folgenden Tag; wie schon bei Mareike eine pfotengeteilte Veranstaltung, doch in noch kleinerem Rahmen. Außer dem Priester waren keine Vollbürger anwesend. Rogo stand zwischen Hartmut und Bikkapuna auf einer Seite; Marianne, mit Linda auf dem Arm, und die ohne Unterlass heulende Tideline auf der anderen. Am Fußende der Grube, sozusagen im neutralen Gebiet, befanden sich Tirvo, Aurora, Johann und Mai-shin.

Der Pakt steht für sich, dachte Tirvo. Ist es nicht das, was wir uns geschworen hatten? Wird es auch in Zukunft so sein?

Aurora beobachtete, wie Hartmut als Erster Erde auf den Sarg häufte, und die Erinnerung an Mareike, die sie vor zweieinhalb Wochen hier begraben hatten, drängte sich mit aller Macht in ihren Geist. Zwei von uns sind tot, bevor wir auch nur zur Anstalt aufgebrochen sind, dachte sie. Wie soll das bloß weiter gehen?

Johann drückte ihre Hand, und sie drückte zurück, so fest, dass es ihn schmerzen musste.

Nach der Zeremonie verabschiedete Rogo sich von den Schülern, indem er rasch über ihre Hände leckte. Hartmut begleitete ihn noch ein Stück, vermutlich, um sich ungestört ein letztes Mal mit ihm zu unterhalten, kehrte aber bereits nach wenigen Minuten zurück. „Er geht wieder zu seinem alten Rudel“, informierte er sie.

Sie kehrten gemeinsam mit der weiterhin pausenlos weinenden Tideline zum Turm zurück, wo sie sich dann in einer formalen Abstimmung dafür aussprachen, dass das Halblingmädchen wieder in ein Fürsprechverhältnis aufgenommen wurde. Ich habe noch nie eine so unglückliche Bürgerin gesehen, dachte Aurora. Ich vermute, sie hat ihre Lektion gelernt – arme Tideline. Erst mit Ludwigs Tod hat Hartmut ihr verziehen. Hoffentlich kann sie mit dieser Schuld leben.

Sie warf Johann einen Blick zu, und er verstand: Sie brauchte jetzt dringend Urlaub. Gemeinsam gingen sie auf Auroras Zimmer.

„Immerhin sind wir jetzt wieder sieben Schüler“, hörte Tirvo Marianne murmeln, aber es klang nicht im geringsten fröhlich. Er ging seinen Spaten holen.

***

In den nächsten Tagen bereiteten sich die Schüler auf ihre Abreise vor. Insbesondere lasen sie viel in Hartmuts Büchern mit Informationen zur Anstalt. Mai-shin schien die Abläufe dort bereits in- und auswendig zu kennen, erklärte den anderen das Prinzip, nach dem die Stundenpläne aufgebaut waren, benutzte Begriffe wie „vorläufige und gegenläufige Schüler“, mit denen außer ihr niemand etwas anzufangen wusste und zitierte aus dem Kopf die Namen der unterrichtenden Fürsprecher, die Essenszeiten in der Mensa und die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Anstaltskutsche, welche die Strecke vom Hafen der Anstalt zum Großen Marktplatz in Arkheim befuhr.

Die übrigen Schüler ließen es etwas ruhiger angehen. Tirvo und Aurora trainierten regelmäßig die Beherrschung ihrer Gabe, nutzten aber auch die schönen Sommertage für Spaziergänge im Wald und zum Baden am See. Tideline erschien wie ausgewechselt, schlief deutlich weniger als früher, kochte nun regelmäßig und freiwillig zusammen mit Marianne, war freundlich zu jedermann und versprühte eine geradezu aufdringliche Fröhlichkeit. Sie, Marianne und Linda schienen beinahe unzertrennlich.

Nur einmal machten sich Marianne und ihre Katzenfreundin ohne das Halblingmädchen auf den Weg, um Chonk und die geflohenen Waisenkinder zu besuchen. Nach ihrer Rückkehr berichteten sie, dass es den Kindern gut ginge und richteten Grüße von Tammi und Mimmi aus.

Bikkapunas Stimmung allerdings war weiterhin trüb. Sie bekamen ihn selten zu sehen, und er sprach fast gar nicht mehr mit ihnen – wenn er es aber tat, dann ließ er durchblicken, dass er sein ganzes Leben für einen Traum hielt und damit rechnete, bald in einem neuen Traum aufzuwachen und diesen weiter zu träumen.

Am Abend vor der Abfahrt besuchte Johann ein letztes Mal seine Familie, diesmal ohne Auroras Begleitung. Er sprach mit ihr nicht darüber, und sie fragte ihn auch nicht nach Einzelheiten.

Schließlich – es war der Morgen des Siebttages in der Viertwoche des Sixtus, vier Tage bevor in der Anstalt der Unterricht begann – sagten die Schüler dem Turm, der in den letzten Wochen ihr Zuhause gewesen war, Lebewohl, und bestiegen gemeinsam mit ihrem Fürsprecher am Kaperstädter Hafen das Schiff, das sie zur Anstalt bringen würde, nachdem Hartmut Marianne einen besonderen Tee gebraut hatte, der ihre Seekrankheit abmildern sollte. Wieder hatte ein neuer Abschnitt in ihrem Leben begonnen.

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Veröffentlicht on Februar 3, 2012 at 10:44 am  Kommentar verfassen  

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