Die Anstalt von Arkheim – Kapitel 20

*** Das Land Arkheim ***

Als Aurora erwachte, fielen die Strahlen der Morgensonne bereits in ihr Zimmer. Wie auch schon gestern Abend saß ihre Zimmergenossin am Fenster und lernte.

„Guten Morgen, Mai-shin – hast du überhaupt geschlafen?“

„Wie?“ Die Lashani schreckte auf und wandte sich ihr zu. „Oh, guten Morgen, Aurora. Ja, natürlich habe ich geschlafen. Ich bin nur vor dir aufgestanden.“

Die Elbin war sich da nicht so sicher. Sie konnte große Ringe unter Mai-shins Augen erkennen, ihre Bewegungen erschienen nervös und ein wenig fahrig, und ihr Bett wirkte unberührt.

„Habe ich das Frühstück verpasst?“

Mai-shin schüttelte den Kopf. „Hartmut ist schon seit Sonnenaufgang unterwegs, da frühstücken wir nicht gemeinsam. Jeder kann sich selbst etwas machen.“

„Ah.“ Aurora stand auf. „Und hast du schon gegessen?“

Wieder schüttelte ihre Gesprächspartnerin den Kopf. „Ich habe noch keinen Hunger.“

Aurora betrachtete Mai-shins dürre Gestalt. „Soll ich dir etwas bringen?“

Mai-shin lächelte sie an. „Danke, aber es ist wirklich nicht nötig, dass du dir meinetwegen Mühe machst.“

„Ach, das ist doch keine Mühe, ein paar Brote extra zu streichen. Weißt du was? Du lernst einfach in Ruhe weiter, und ich bringe dir etwas – in Ordnung?“

Sie schien den richtigen Ton angeschlagen zu haben. „Das ist wirklich sehr lieb von dir, Aurora“, antwortete Mai-shin dankbar.

„Mache ich doch gerne.“ Sie zog sich an und begab sich zum Badezimmer. Auf dem Weg dorthin bemerkte sie, dass die Tür zu Mareikes und Tidelines Zimmer offen stand. Eine große, schwarz-weiß gefleckte Katze streckte ihren Kopf heraus und sah sie an.

Zögernd kam Aurora näher. „Guten Morgen“, sagte sie höflich. Die Katze miaute leise. Eine zweite, grau getigerte Katze erschien in der Tür und miaute ebenfalls.

„Aurora?“, hörte sie Mareikes Stimme. „Komm doch herein.“

Die Elbin betrat das Zimmer. Tideline lag in ihrem Bett und schlief. Mareike saß neben ihr auf einem kleinen Stuhl und sah aus dem Fenster.

„Guten Morgen“, sagte Aurora noch einmal, leise, um das Halblingmädchen nicht zu wecken.

Mareike wies mit ihren schlanken Fingern auf die beiden Katzen. „Das sind Lisa und Moro. Sie besuchen uns ab und zu.“

„Gibt das denn keine Probleme mit Rogo?“, fragte Aurora, ohne vorher darüber nachzudenken.

Die Katzen fauchten. Moro fuhr seine Krallen aus, und Aurora stellte fest, dass diese deutlich länger waren und schärfer aussahen, als sie es von urländischen Katzen gewohnt war. Sie erinnerte sich an die tiefen Schnitte, die sie bei Rudi verarztet hatte und zuckte zusammen.

Mareike strich dem Kater beruhigend über den Kopf. „Wenn Pfoten bei Bürgern zu Gast sind, stellen diese eine temporäre Freistatt dar. So können Katzen und Hunde ihre bürgerlichen Freunde besuchen, ohne sie in ihren Krieg hinein zu ziehen.“

„Ach so.“ Aurora wechselte das Thema. „Hast du schon gefrühstückt?“

„Ich habe keinen Hunger.“

Noch so eine, dachte Aurora. „Soll ich dir etwas bringen?“ Ob sie für zwei oder drei Leute Essen machte, war schließlich auch egal.

„Nein, lass nur, ich will wirklich nichts. Vielleicht schlafe ich noch ein bisschen.“ Als Mareike dies sagte, sprang Lisa auf ihr Bett und gähnte. Moro wiederum hüpfte zu Tideline ins Bett und kuschelte sich an diese.

Schulterzuckend verabschiedete sich Aurora und verließ das Zimmer wieder.

***

In der Küche traf sie Tirvo an, der einige belegte Brote aß und dabei in einem Buch las. Sie begrüßte ihn und erfuhr, dass Ludwig und Bikkapuna mit einem Handwagen nach Kaperstadt gegangen waren, um Einkäufe in Hartmuts Auftrag zu erledigen. Johann war ebenfalls in Kaperstadt, um seine Familie zu besuchen, und Hargor begleitete Hartmut, wohin auch immer.

Aurora nahm sich einen großen Teller und begann, Brote für sich und Mai-shin zu schmieren. Dabei fragte sie Tirvo, was er da las.

„Hartmut hat mir ein paar Bücher über Arkheim und die Anstalt gegeben. Er hat gemeint, darin würden wir Antworten auf viele unserer Fragen finden.“

Neugierig sah Aurora den Stapel gedruckter Bücher durch, auf den Tirvo gewiesen hatte. Sie entschied sich, zwei davon mit auf ihr Zimmer zu nehmen: „Die Rolle Grenzenloser in der Arkheimer Gesellschaft“ und „Eine Welt im Wandel – was die Tagmokratie ihren Bürgern verschweigt“. Vorsichtig lud sie die Bücher, den Teller mit den Broten, einen Krug mit Milch und zwei Becher auf ein Tablett und stieg die Treppen zurück zu ihrem Zimmer hinauf. Dort stellte sie das Tablett vor Mai-shin ab, die sich auch sogleich hungrig eine Brotschnitte griff, ohne dabei den Blick von ihrem Buch zu wenden. Aurora goss die beiden Becher mit Milch voll und stellte Mai-shin einen davon direkt vor die Nase. Dann setzte sie sich mit einem Brot in der Hand auf ihr Bett und begann zu lesen.

***

Die oberste Leitmaxime der Tagmokratie ist das Vertrauen in eine geordnete Welt, und dies gilt in Arkheim ebenso. Jedoch ist nach Auffassung tagmokratischer Gelehrter die Welt im einzig möglichen perfekten Zustand erschaffen worden und hat seitdem ihre Ordnung verloren, und die Aufgabe der gerechten Völker ist es, diese ursprüngliche Ordnung in Erfahrung zu bringen und wieder herzustellen. In Arkheim hingegen erkennen wir die Existenz einer Vielzahl möglicher Ordnungen an, welche die Welt und die in ihr lebenden Völker im Wandel durch die Zeit begleiten. Wo die Tagmokratie sich selbst unüberschreitbare Grenzen setzt – sowohl im physischen, als auch im übertragenen Sinn – sind wir in Arkheim bereit, unsere Grenzen plan- und maßvoll zu erweitern. Während das Ziel der Tagmokratie eine perfekte, statische Gesellschaft ist, streben wir in Arkheim einen den Bedingungen unserer sich verändernden Welt angepassten, geordneten Wandel an. Daher ist die Grundlage unseres Handelns das Buch des Wandels, welches im Gegensatz zum Tagmokratischen Kodex nicht lediglich erweiterbar, sondern in Abhängigkeit der von uns erworbenen Erkenntnisse über die Welt auch veränderlich ist, um die bestmögliche Ordnung nicht für eine unerreichbare Vergangenheit, sondern für die Gegenwart und nahe Zukunft herbeizuführen.

Aurora las diese schwierige Passage ein zweites, dann ein drittes Mal. Vielleicht war Mai-shins Lerneifer ja doch nicht ganz so übertrieben gewesen, wie sie dachte?

Sie beschloss, das Buch nicht vom Anfang bis zum Ende zu lesen, sondern darin zu blättern und zu schauen, ob einige besonders interessante Stellen ihre Aufmerksamkeit erregten.

Da war zum Beispiel eine Karte von Wildland, welche ein gutes Stück über den Äquator nach Süden hinausreichte. Offenbar kannte die Arkheimer Flotte keine Scheu, diese Grenze zu überqueren und machte sich die Abwesenheit tagmokratischer Truppen in jener Gegend zunutze, um mit den wildländischen Einwohnern regen Handel zu treiben.

Viel interessanter waren aber natürlich die Karten von Fernland. Obwohl Aurora früher lediglich ein recht gemäßigtes Interesse für Weltkunde gezeigt hatte, fiel ihr doch auf, dass der Ozean der Versuchung in diesem Buch erheblich weniger breit dargestellt war als in ihren Schulbüchern. Besonders nahe Frostland rückte die fernländische Küstenlinie an die urländische heran, und die Südwestspitze Fernlands, auf der Kaperstadt sich befand, war auch nicht weiter von der Ostküste Wildlands entfernt als Südland von dessen Nordküste.

Fernland wurde durch ein gewaltiges Gebirge, die Himmelberge, zweigeteilt, welches sich von der Südküste zwischen dem Arkheimer Osthafen und dem ostfernländischen Handelsstadt zuerst nach Norden, dann aber zunehmend nach Osten zog. Jenseits dieses Gebirges war außer Handelsstadt nichts eingezeichnet. Aurora las als Erklärung, dass der Allmächtige Kaiser den Arkheimer Schiffen keine Passage über Handelsstadt – von seinen Einwohnern Hatachi genannt – hinaus gestattete. Er hatte jedoch den urländischen Flüchtlingen großzügig erlaubt, sich westlich der Himmelberge anzusiedeln, unter der einzigen, selbstverständlichen Bedingung, dass sie alle Orks, derer sie dort habhaft wurden, erschlugen.

Über Ostfernland war daher in Arkheim nur wenig bekannt. Es gab offenbar zwei große Bevölkerungsgruppen, welche dort lebten, Tachi und Lashani. Die bronzehäutigen Tachi bewohnten die westlicheren Gebiete (insbesondere also die Gegend um Hatachi), während die Lashani weiter östlich siedelten. Jedoch standen die Tachi offensichtlich unter der Herrschaft der Lashani, und auch der Allmächtige Kaiser war – so hieß es zumindest – ein Lashani. Nichtmenschliche Bürger, sowie Pfoten waren in Ostfernland nicht bekannt. Allerdings lebten dort (wie auch in Westfernland) einige Oger, die von reicheren Lashanifamilien als eine Art halbintelligente Haustiere gehalten wurden.

Westfernland hingegen hatten die urländischen Exilanten, die offenbar bereits seit einem knappen Jahrtausend (also deutlich länger, als die Tagmokratie es zugab) dort siedelten, abgesehen von einigen vereinzelt lebenden Ogern lediglich von Orkhorden besiedelt vorgefunden. Nur in den weiten Steppen des Ostens, nördlich der Himmelberge, lebten nomadisierende Zentaurenstämme. (Und in der Tagmokratie hieß es doch, Zentauren seien die Ausgeburten unordentlicher Phantasien!, dachte Aurora.) Die Stadt Arkheim – ursprünglich Arkos, aber der erste Magistrat hatte rasch beschlossen, eine modernere Variante des altelbischen Namens zu benutzen, um sein Bekenntnis zum Wandel zu demonstrieren – war einige Jahrhunderte später als Gegenentwurf zur tagmokratischen Hauptstadt Genessos gegründet worden. Tatsächlich war die Arkheimer Bucht schon deutlich länger besiedelt gewesen, jedoch wurde die Stadt- und Reichsgründung von Arkheim später bewusst rückwirkend auf den exakten Gründungstag der Tagmokratie datiert, um die Bedeutung des Arkheimer Reiches als Alternative zur Tagmokratie besonders hervorzuheben. Eine praktische Begleiterscheinung davon war, dass so der tagmokratische und der Arkheimer Kalender übereinstimmten, nur dass man in Arkheim natürlich „A.Z.“ (Arkheimer Zeitrechnung) an Stelle von „T.Z.“ (Tagmokratischer Zeitrechnung) schrieb.

Dann stieß Aurora auf ein Kapitel, welches sie für besonders wichtig hielt: Hier wurde ein Überblick über die bedeutsamsten Unterschiede zwischen der tagmokratischen und der Arkheimer Gesellschaft gegeben. Als Erstes wurde erwähnt, dass Grenzenlosigkeit in Arkheim nicht bestraft wurde, jedoch nichts weiter dazu gesagt, was sie nicht bereits von Hartmut gehört hatte. Dann hieß es, dass Arkheim ebenfalls die offizielle tagmokratische Altersumrechnungstabelle für die gerechten Völker benutzte. Allerdings unterschieden sich die Pflichten der Bürger ein wenig: So waren Kirchenbesuche in Arkheim nicht zwingend vorgeschrieben. Jedoch erhielten nur regelmäßige Kirchgänger im Notfall Unterstützung durch den Staat. In Arkheim gab es keine zugewiesenen Arbeitsstellen – jeder Bürger war selbst für sein Auskommen und das seiner Familie verantwortlich. Und auch wenn in Arkheim ebenso wie in der Tagmokratie galt, dass Bürger, die aus Fahrlässigkeit oder Unvorsichtigkeit Opfer eines Verbrechens wurden, ebenso wie der Täter bestraft wurden, weil sie diesen mit ihrem Verhalten in Versuchung geführt hatten, wurde diese Regelung hier offensichtlich erheblich großzügiger ausgelegt, da Arkheim von seinen Bürgern Unternehmungslust und Eigeninitiative forderte – welch ein Unterschied zur Tagmokratie, in der, wie das Buch es mit einer gewissen Spitzzüngigkeit formulierte, „alles verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt ist“! Zu ihrer großen Überraschung lernte Aurora, dass es in Arkheim auch kein Verbot des eigenständigen Reisens gab, und dass die Arkheimer Bürger ihr Land nach Belieben durchqueren durften und dabei weder die Einwilligung des Bezirks, den sie verließen, noch diejenige des Bezirks, den sie betraten, einholen mussten!

Überhaupt genossen die Arkheimer offenbar eine unglaubliche Freizügigkeit. So war jedem Bürger das Tragen von Waffen erlaubt (abgesehen jedoch von Knallpulver, welches sich nicht in Privatbesitz befinden konnte), und Entsprechendes galt für den Besitz von Schiffen, Wagen und Reittieren. (Nur Greife und Pegasi stellten eine Ausnahme dar.) Weiterhin durften Bürger aller Völker und beider Geschlechter jede berufliche Tätigkeit ausüben – nur beim Militär wurden schwangere Frauen und Mütter mit Kindern, welche noch nicht das Schüleralter erreicht hatten, nicht zugelassen.

Eine grundlegende Bürgerpflicht gab es jedoch, der sowohl Vollbürger als auch Grenzenlose unterlagen, und deren Nichterfüllung mit Entzug der Bürgerrechte bestraft wurde: Die Orkpflicht. Jeder Bürger, der Kenntnis von der Anwesenheit von Orks in seiner Nähe erlangte, war verpflichtet, sobald dies nicht mit unzumutbarer Gefahr für sein Leben und seinen Besitz oder Leben oder Besitz anderer Bürger verbunden war, diese unverzüglich zu jagen und zu töten und andernfalls eine Posse zusammenzustellen, welche diese Jagd durchführte, oder, wenn auch dies zu gefährlich erschien, unverzüglich den Magistrat von Arkheim zu informieren. Auch Pfoten unterlagen der Orkpflicht, und in einem Gebiet, in dem sich Orks befanden, ruhte der Pfotenkrieg, bis diese getötet oder vertrieben worden waren.

Tirvos Stimme riss die Elbin aus ihren Gedanken. „Soll ich euch beiden auch etwas zu essen machen? Mareike und Tideline schlafen, und die Katzen wollen nicht, dass ich sie wecke, aber die Hasen sind ja schon vorbereitet, und sie zu braten und ein paar Kartoffeln zu kochen kriege ich noch hin.“

Die Mädchen nickten dankbar, und Tirvo begab sich in die Küche.

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Veröffentlicht on Februar 12, 2011 at 11:56 pm  Kommentar verfassen  

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